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Coronavirus, Revolutionsgarde und US-Sanktionen in Iran

Wer ist Schuld an der Corona-Krise in Iran?

Feature
von Mat Nashed
Coronavirus, Revolutionsgarde und US-Sanktionen in Iran
11. Februar 2020: 41. Jahrestag der Islamischen Revolution. Neben der Revolutionsgarde zeigten auch Angehörige der regulären Streitkräfte Präsenz. Eine Woche später vermeldete Iran die erste Corona-Infektion in Qom. Foto: Farhad Babaei

Irans Gesundheitswesen droht der Kollaps: Ärzte erheben unter vorgehaltener Hand schwere Vorwürfe gegen die Revolutionsgarde. Derweil mauert die US-Regierung und scheint eine perfide Strategie zu verfolgen.

Als Sonboleh im November 2019 ihren Arzt aufsuchte, warnte der sie vor einer seltsamen neuen Grippe, die sich in Iran ausbreite. Damals wusste niemand von Covid-19, dem neuartigen Coronavirus, das chinesische Forscher erst im folgenden Monat den Behörden melden würden. Während der ersten Tage des Ausbruchs hatten die chinesischen Behörden den eigenen Forschern einen Maulkorb verpasst, der internationale Reiseverkehr wurde zunächst unvermindert aufrechterhalten.

 

Erst heute, im Rückblick, fragt sich Sonboleh, 53, ob das Virus bereits Monate vor der Bekanntgabe des ersten Falls in China nach Iran gelangt sein könnte. Im Telefongespräch mit zenith fragt sie sich gar, ob das Virus für den Tod einer ihrer Freundinnen verantwortlich sein könnte, die im Oktober angeblich an der Grippe gestorben war. »Wie kann ich sicher sein, dass sie nicht am Coronavirus gestorben ist« fragt sich Sonboleh, die sich erst bereit erklärte, mit zenith zu sprechen, nachdem ein Verwandter im Ausland den Kontakt hergestellt hatte.

 

Vier Monate nach Sonbolehs Arztbesuch kämpft Iran nun darum, die Pandemie einzudämmen. Bis zum 25. März sind mindestens 2077 Menschen an Covid-19 gestorben, doch Beobachter gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer fünfmal höher sein könnte.

 

Eine Woche vor den Parlamentswahlen vermeldete Qom Irans ersten Covid-19-Fall

 

Auf Satellitenbildern von Mitte März ist deutlich zu erkennen, dass in der Stadt Qom neue Massengräber ausgehoben wurden. Von hier wurde am 19. Februar die erste offiziell bestätigte Corona-Infektion des Landes gemeldet. Die Regierung trägt die Schuld dafür, dass die Stadt damals nicht direkt unter Quarantäne gestellt wurde, um den Ausbruch einzudämmen. Die Behörden hatten befürchtet, dass die Abriegelung der Stadt die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen eine Woche später, am 25. Februar, behindern würde. Später machte sie das Virus dann für die niedrigste Wahlbeteiligung seit der Revolution 1979 verantwortlich.

 

Hardliner unter den Klerikern – darunter Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei – beschuldigen seitdem öffentlich die USA, das Virus nach Iran eingeführt zu haben. Khameneis Verschwörungstheorien entbehren jeglicher Grundlage. Klar ist aber auch, dass die USA weiter an den Sanktionen gegen Teheran festhalten und eine Einhegung der Pandemie so erschweren. Denn die US-Sanktionen verhindern etwa den Import potenziell lebensrettenden medizinischen Equipments.

 

Washington seinerseits argumentiert, dass der Export humanitärer Güter nicht unter das Sanktionsregime falle, also möglich sei. Doch offensichtlich scheuen sich viele internationale Unternehmen, Transaktionen mit der sanktionierten Zentralbank in Teheran zu tätigen und so den Zorn der US-Regierung auf sich zu ziehen.

 

Kritiker werfen der Revolutionsgarde vor, in der Krise zuerst an sich selbst denken

 

Dieser Abschreckungseffekt hat zu einem akuten Mangel an grundlegender Krankenhausausstattung geführt. Eine Klinikmitarbeiterin in Teheran, die anonym bleiben möchte, bestätigt im Gespräch mit zenith, dass in ihrem Krankenhaus ein chronischer Mangel an Masken und Schutzhandschuhen herrscht. Zudem sei das medizinisches Personal oft gezwungen, Schutzmasken wiederzuverwenden – und setze sich so dem Risiko einer Ansteckung aus.

 

Die Krankenhausmitarbeiterin beschuldigte außerdem die iranische Revolutionsgarde, die wenigen Testkits und Beatmungsgeräte für die politische Elite vorzuhalten. Tatsächlich zählten zu Beginn der Pandemie mehrere Regierungsmitglieder zu den Infizierten. In den folgenden Tagen starben eine ganze Reihe von Amtsträgern an Covid-19. Zudem häufen sich Meldungen über die Todesfälle in den Reihen der Revolutionsgarde. Der Verdacht: Die Toten waren aufgrund von Spätfolgen des Chemiewaffeneinsatzes während des Iran-Irak-Krieges besonders anfällig für die Krankheit.

 

Zwar leiden tatsächlich Hunderttausende noch immer an den Spätfolgen der Giftgasangriffe aus den 1980er Jahren – und ihnen droht ein schwerer Krankheitsverlauf im Falle einer COVID-19-Infektion. Dennoch wurden viel der Todesfälle in der Führungsriege der Revolutionsgarde zumindest öffentlich nicht explizit mit dem Coronavirus in Verbindung gebracht – vielleicht auch, um nach außen den Eindruck von Führungsschwäche zu vermeiden.

 

Doch genau das werfen Kritiker der mächtigsten Institution der Islamischen Republik vor: Sie würde in der Krise zuerst an sich selbst denken. »Die Garde kontrolliert die gesamte Ausrüstung, die nach Iran gelangt, und sie nutzt die Situation aus«, sagt die Klinikmitarbeiterin am Telefon. »Testkits und medizinische Ausrüstung kommen täglich an, aber sie werden den Parlamentariern ausgehändigt, die die meisten der Kits für sich selbst verwenden.«

 

Seit Ende Februar haben mindestens 48 iranische Mediziner durch Covid-19 ihr Leben verloren

 

»Die Garde müsste sich selbst oder die politischen Eliten nicht priorisieren, wenn sie genug Testkits und medizinische Ausrüstung hätte, um sie an Krankenhäuser in ganz Iran zu verteilen«, meint Kamiar Alaei, Gesundheitsexperte und Mitbegründer des US-amerikanischen »Institute for International Health and Education« (IIHE), im Telefongespräch mit zenith.

 

Der Mangel an Schutzausrüstung gefährde Irans Ärzte. Laut Alaei haben seit Ende Februar mindestens 48 Mediziner durch Covid-19 ihr Leben verloren – viermal so viele wie etwa in Italien, dem Epizentrum der Pandemie in Europa. »Iran befindet sich an einem sehr kritischen Moment«, so Alaei und appelliert an Washington: »Es ist wirklich wichtig, dass das US-Außenministerium internationalen Medizin-Unternehmen versichert, Geschäfte mit Iran machen zu dürfen.«

 

Eine mögliche Lösung könnte ein quid pro quo sein: Aussetzung der Sanktionen, im Gegenzug Freilassung politischer Gefangener mit US-Pass aus iranischer Haft. Experten halten solche Vorstöße für eine Nebelkerze. »Die Trump-Regierung fordert immer wieder die Freilassung amerikanischer Bürger und das wäre auch eine sinnvolle humanitäre Geste«, sagt etwa Politikanalystin Negar Mortazavi im Gespräch mit zenith. »Aber die US-Regierung hat zumindest öffentlich nie in Aussicht gestellt, im Gegenzug die Sanktionen zu lockern.«

 

Vorerst kommen mehrere Länder aus der regionalen Nachbarschaft Iran zu Hilfe – darunter auch Rivalen. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait und Katar haben alle entweder lebenswichtige Güter wie Masken, Handschuhe und Beatmungsgeräte per Luftbrücke eingeflogen oder Hilfsgelder zur Verfügung gestellt, um Iran im Kampf gegen das Virus zu unterstützen.

 

Zum ersten Mal seit 60 Jahren wendet sich Iran an den Internationalen Währungsfonds

 

Dennoch glauben viele Beobachter, dass Iran nicht in der Lage sein wird, strikte Quarantänemaßnahmen zu verhängen, ohne das Leben von Millionen Iranerinnen und Iranern weiter zu gefährden. Die einzige Möglichkeit, die Menschen zum Daheimbleiben zu bewegen, wären umfangreiche Hilfslieferungen – Nahrung und Geld – an Millionen iranische Haushalte. Andernfalls riskieren die Menschen, zu verhungern, bevor sie dem Coronavirus erliegen.

 

Es ist ein Grund dafür, dass Iran – zum ersten Mal seit 60 Jahren – an den Internationalen Währungsfonds herangetreten ist. Das erbetene Darlehen in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar hängt an der Genehmigung der USA. Sollte es nicht rechtzeitig gewährt werden, wird die iranische Zentralbank wohl kaum in der Lage sein, die steigenden Ausgaben für die Gesundheitsversorgung zu stemmen.

 

Sonboleh ist zwar nicht sonderlich nicht optimistisch. Aber sie weigert sich, das Land zu verlassen. Sie erzählt, dass sie sich um sich um ihren 96-jährigen Vater und ihre 83-jährige Mutter kümmern müsse, die beide an Krebs erkrankt sind. Sonboleh sagt, dass auch sie wegen ihres schwachen Immunsystem in Gefahr schwebt. »Noch kann ich mir die hohen Gesundheits- und Lebenshaltungskosten leisten«, sagt sie. »Aber wenn die Menschen weiterhin nicht arbeiten können oder sich die Medikamente nicht mehr leisten können, wird es in einigen Monaten zu einem Aufstand kommen.«

 

Die Trump-Administration – das werfen ihr Kritiker vor – hofft, dass die Sanktionen zu genau diesem Szenario führen. Und sind offenbar bereit, tausende Menschen dafür zu opfern.

Von: 
Mat Nashed

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