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Ägyptische Online-Zeitung Mada Masr

Der Leuchtturm von Kairo

Feature
Ägyptische Online-Zeitung Mada Masr
Eine Redaktionssitzung in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Laut Reporter ohne Grenzen sitzen zurzeit über 30 Medienschaffende wegen ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnis. Foto: Jörg Armbruster

Die Online-Zeitung Mada Masr berichtet stetig über Folter und Korruption in Ägypten – und erhält dabei Hinweise aus dem Innersten der Macht. Wie das gutgehen konnte, wussten die Macher selbst nicht so genau – bis zur Razzia.

»Die Aktivistin Israa Abd El Fattah berichtet über Folter im Gefängnis.« Wer als Chefredakteur in Ägypten eine solche Meldung als Aufmacher auf die erste Seite seiner Zeitung setzt, sollte sich nicht wundern, wenn bald die Staatssicherheit vor der Tür steht und zum Mitkommen auffordert.

 

Folter in Ägypten? Ägyptens Botschaft in Berlin zum Beispiel streitet solche Vorwürfe rundweg ab. Alles Lüge und Verleumdung, Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch hätten ihre Glaubwürdigkeit schon lange verloren, genauso im Land beheimatete NGOs, die sich regelmäßig zu dieser Frage äußern, wie das »Nadeem Center« oder die Menschenrechtsorganisationen von Mohamed Lotfi oder Gamal Eid.

 

Lotfis »Ägyptische Kommission für Recht und Freiheit« hatte Ende Oktober 2019 von einer Verhaftungswelle mit weit über 4.000 neuen politischen Gefangenen berichtet, festgenommen innerhalb von nur vier Wochen. Darunter Professoren, Journalisten, Rechtsanwälte. Insgesamt gäbe es mindestens 60.000 politische Gefangene. Menschen würden entführt und tauchten erst nach Wochen wieder auf, wenn überhaupt. Folter und Willkür seien an der Tagesordnung. »Gewaltsame Entführungen sind inzwischen ein Markenzeichen der Sicherheitsbehörden unter Sisi«, beklagt Lotfi.

 

Solche Meldungen sind in ägyptischen Zeitungen normalerweise nicht zu finden, schon gar nicht als Aufmacher. Die angegebenen Zahlen werden von offizieller Seite barsch als Lüge zurückgewiesen. Dennoch, es gibt dieses Zeitung, die mit der verhafteten Aktivistin Israa Abd El Fattah als Schlagzeile aufgemacht hat. Redigiert und online gestellt am 15. Oktober 2019 von einer Gruppe junger Redakteure, die mitten in Kairo das einzige unabhängige Presseorgan des Landes produzieren. Tag für Tag. Fast ein kleines Wunder: Verboten wurde es bislang nur ein einziges Mal. Sein Name: Mada Masr, was so viel heißt wie »Weites Ägypten«.

 

Mada Masr – eine Online-Zeitung, die zum Feinsten und Tapfersten gehört, was an Presse in Ägypten gegenwärtig erscheint. Ein Licht in einer dunklen Zeit, das die Sicherheitsbehörden des Landes zu löschen versuchen. Klickt man die Ausgabe vom 15. Oktober 2019 an, strahlt dem Leser das freundliche Gesicht einer jungen Frau entgegen.

 

Es ist Israa Abd El Fattah, jene Aktivistin, die damals laut der Schlagzeile durch die Hölle der ägyptischen Sicherheitsapparate gehen musste. Nach ihrer Verhaftung, so der Bericht, hatten Agenten der »Nationalen Sicherheit« ihr zunächst die Augen verbunden, sie dann auf ein Polizeirevier verschleppt. Als sie sich weigerte, den PIN-Code ihres Smartphones preiszugeben, schlugen sie ihr auf den Rücken, auf die Arme und ins Gesicht. Die Misshandlungen gingen in den nächsten Tagen weiter.

 

Israa Abd El Fattah ist nicht die einzige derartig Gefolterte. Auch darüber berichtet Mada Masr ausführlich. Außerdem über Terrorangriffe auf einen Militärposten im Nordsinai, bei dem Soldaten und Zivilisten starben. Ein langer, überzeugend recherchierter Bericht über die Hilflosigkeit der ägyptischen Armee beim Kampf gegen die Dschihadisten. Sogar vertrauliche Quellen aus Armeeeinheiten kann der Reporter zitieren. Alles Nachrichten, die Leser in anderen ägyptischen Zeitungen vergeblich suchen.

 

Dabei ist Mada Masr kein heimlich im Keller eines Hochhauses produziertes Untergrundblatt, das sich vor dem Staat und seiner Polizei versteckt. Die Redaktion ist einfach zu finden. Im sechsten Stock eines Wohnhauses im Kairoer Stadtteil Dokki. An der Eingangstür steht ein großes Schild mit der Aufschrift »Mada Masr«.

 

Berichte über die Rolle von Sisis Verwandtschaft im Staatsapparat sind eine rote Linie.

 

Im Oktober 2019 hatte ich die Redaktion besucht. Klingeln. Ein junger Mann öffnet: »Bist du Jörg? Willkommen! Komm rein!« Lina käme ein bisschen später, ich solle mich schon mal umschauen. Einen Kaffee bekomme ich auch. Drei große Räume in der einst herrschaftlichen Wohnung sind belegt. In einem arbeitet eine Gruppe von Redakteuren vor ihren Bildschirmen an der nächsten Ausgabe. Die Tagesschicht.

 

Wie kann es sein, dass eine solche Zeitung in Sisis Ägypten erscheint, produziert von jungen, fröhlichen Ägyptern, die gelassen und offensichtlich ohne Furcht über all das berichten, was Militär und Polizei zu unterdrücken versuchen? Die Antwort kommt stürmisch durch die Eingangstür gestürzt: »Sorry für die Verspätung, Jörg. Gib mir eine Minute!« Es ist Lina Attalah, die Chefredakteurin, die sich da entschuldigt. Mit einem entwaffnenden Lächeln.

 

Dann setzt sie sich zu mir. »Was kann ich für dich tun?« Nun was schon? Zunächst doch wohl die Frage beantworten, warum gibt es euch überhaupt? Warum lässt das Regime diese Zeitung zu? Sie antwortet mit einem Schulterzucken. Sie weiß es auch nicht so richtig. Seit Juni 2017 wird die Zeitung in Ägypten zwar geblockt, soll also im Land nicht mehr erreichbar sein, kann aber trotzdem unter einigen Schwierigkeiten von den ägyptischen Lesern im Internet gefunden werden: »Diese Sperre ist aber illegal «, erklärte Lina damals selbstbewusst, schließlich sei Mada Masr bei den Behörden registriert, darf also erscheinen. Eigentlich. »Nicht wir sind illegal, sondern, das, was die Behörden mit uns machen, ist illegal. Auch nach ägyptischen Gesetzen.«

 

Aber die ignorieren Ägyptens Machthaber beständig – oder schaffen sich im Zweifelsfall eigens neue rechtliche Grundlagen. Seit 2018 legalisiert ein Gesetz solche Online- Blockaden wie gegen Mada Masr. Weit über 34.000 verdächtige Seiten sind inzwischen gesperrt, darunter die der Deutschen Welle. Wäre es da für die Regierung nicht einfacher, die Zeitung gleich ganz zu verbieten, so wie sie es mit allen Publikationen gemacht hat, die nicht auf Regimekurs einschwenken wollten? »Diese Frage stellen wir uns natürlich auch ständig. Besonders wenn wir über Folter oder die Armee berichten, rechnen wir mit dem Schlimmsten. Wir wissen es nicht, wir können nur vermuten. Vielleicht glauben die Behörden, sie könnten uns nicht so einfach dichtmachen, weil Mada Masr inzwischen zu bekannt ist, besonders bei ausländischen Regierungen. Uns zu verbieten oder uns zu verhaften, könnte großen Ärger provozieren. Uns zu blockieren ist eine Art weicher Zensur.«

 

Die Ausgabe vom 15. Oktober 2019 ist typisch für Mada Masr: Im ausführlichen Hintergrund zur Lage der Menschenrechte im Land wird über 3.000 willkürlich Verhaftete in den vorhergehenden zwei Wochen berichtet, Folter gehöre zur Tagesordnung. Alles ungeschminkt und ohne Schnörkel. Außerdem Berichte über Einzelschicksale politischer Gefangener, über Korruption, den heimlichen Ausverkauf des Landes und immer wieder über den Kampf gegen Terrorismus. Die mit Namen gekennzeichneten Artikel zitieren auch Quellen, die im Inneren des Militärs oder des Regimes angesiedelt sein müssen. Denn, so Lina, Sisis System sei kein geschlossener Block.

 

»Die Arbeit schützt mich vor Depressionen«, sagt ein Redakteur.

 

Der nach Barcelona geflohene Bauunternehmer Mohamed Ali setze sich zwar mit Informationen über Korruption und Bereicherung seit August 2019 via Facebook immer wieder öffentlich in Szene. Mada Masr habe aber Zugang zu anderen Unzufriedenen innerhalb des Regimes, die indes lieber im Verborgenen bleiben wollen: »Uns informieren Parlamentsabgeordnete, die dem Regime nahestehen. Wir haben Quellen im Außenministerium, alles Informanten, die aus irgendwelchen Gründen verärgert sind. Die riskieren natürlich einiges. Innerhalb des Regimes tun sich einige Gräben auf, verschiedene Fraktionen stehen in Konkurrenz zueinander. Aus solchen Kreisen kommen unsere Informanten.«

 

Vermutlich auch die, die im November zur Festnahme von Lina und einiger ihrer Kollegen und fast zu einer Schließung von Mada Masr geführt hatten. Die Reporter hatten über Mahmud Al-Sisi recherchiert. Der Sohn des Präsidenten hatte bislang einen hohen Posten im ägyptischen Geheimdienst bekleidet. Der Artikel zitiert Informanten, die durchstecken ließen, dass der Präsidentensprössling mit den Protesten infolge der Mohamed-Ali-Videos im Herbst völlig überfordert gewesen sein soll. Er solle daher als Militärattaché an die ägyptische Botschaft nach Moskau versetzt werden.

 

Auch wenn diese Informationen mehrfach abgesichert waren, wie Lina in einem Brief an die Leser versicherte, bleibt in einem Land wie Ägypten solch eine Majestätsbeleidigung nicht ungesühnt. Drei Tage nach der Veröffentlichung klopfte es morgens gegen halb fünf bei Redakteur Shady Zalat an der Wohnungstür. Bewaffnete Beamte der Staatssicherheit holten ihn aus dem Bett und verschleppten ihn, ohne einen Haftbefehl vorzulegen. Wie einen Schwerverbrecher.

 

Lange wusste seine Frau nicht, in welchem Gefängnis er einsaß. »Die Angst vor Verhaftung ist der Preis, den wir zahlen müssen für die Möglichkeit, hier arbeiten zu dürfen«, sagte er mir einen Monat zuvor noch beim Redaktionsbesuch. »Aber wenn ich bei einer anderen Zeitung arbeiten würde, verlöre ich den Respekt vor mir selbst.« Einen Tag später durchsuchten Beamte der Staatssicherheit stundenlang die Redaktion. Niemand durfte die Räumlichkeiten verlassen, niemand telefonieren.

 

Schließlich nahmen die Beamten Lina Attalah und zwei Redakteure fest. Alle wurden am nächsten Tag zwar wieder freigelassen. Doch die Botschaft war klar: Auch für Mada Masr gelten die gleichen Regeln wie für alle Publikationen: Wer zu viel riskiert, dem droht Gefängnis.

 

Laut Reporter ohne Grenzen sollen zurzeit über 30 Medienschaffende wegen ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnis sitzen. Allein acht Journalisten wurden im Zuge der Verhaftungswelle im Oktober und November 2019 festgenommen und warten im Gefängnis auf ihre Prozesse, wenn es überhaupt welche geben wird. Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die Reporter ohne Grenzen regelmäßig aktualisiert, liegt Ägypten inzwischen auf Platz 163, zwischen Libyen und Somalia, nur noch 16 Plätze von den Schlusslichtern Nordkorea und Turkmenistan entfernt.

 

Gegründet hat Lina Attalah ihre Zeitung im Frühjahr 2013, nachdem die Kairoer Tageszeitung Egypt Independent die von ihr geleitete Onlineausgabe eingestellt hatte. Da beschlossen Lina und ihre Freunde, sich mit einer eigenen Zeitung unabhängig zu machen. Am 30. Juni, also vier Tage vor der Absetzung des damaligen Präsidenten Muhammad Mursi und der Machtübernahme durch das Militär, erschien die erste Ausgabe. »Wir wählten diesen Tag mit Bedacht, weil wir ahnten, dass bald etwas Grundlegendes passieren würde. Und wir wollten mit ehrlichen Informationen dabei sein. In meinem ersten Leitartikel habe ich klar gemacht, dass wir die Muslimbrüder und ihre Politik ablehnen, dass wir aber auch vom Militär keine Lösung der Probleme erwarten. Diese Haltung ziehen wir bis heute durch.«

 

Und diese klare Haltung wurde belohnt. Bis zur Internetsperre im Juni 2017 hatte die Zeitung durchschnittlich eine halbe Million Leser im Monat. Alle Artikel sind kostenfrei. Wie viele Menschen heute die Zeitung lesen, kann die Redaktion wegen der Sperre nicht feststellen. Davon lassen sich die Macher aber nicht beirren. 35 junge Ägypterinnen und Ägypter arbeiten bei Mada Masr, alle besser bezahlt als ihre Kollegen anderer ägyptischer Zeitungen. »Selbst der Bürohelfer bekommt bei uns mehr als bei anderen Verlagen«, betont Lina Attalah.

 

Finanziert wird die Truppe aus dem Ausland, hauptsächlich skandinavische Geldgeber unterstützen sie. »Wir haben aber keine einzige Auflage bekommen, außer eine gute Zeitung zu machen!« Um einen großen ovalen Tisch saßen die Redakteure, als ich sie im Oktober besuchte, ihre Laptops vor ihnen aufgeklappt. Sie bereiteten die nächste Ausgabe vor. »Wart ihr damals alle auf dem Tahrir-Platz?« Was eine Frage! Einige verdrehten sogar die Augen. Wie kann man nur... »Natürlich. Sonst wären wir nicht hier.«

 

Aber lohnt es sich wirklich, sich tagtäglich diesem Risiko auszusetzen, dieser Angst, dass jederzeit wieder Polizisten kommen und sich an ihnen rächen werden für die vielen veröffentlichten Enthüllungen und Folterberichte? Redakteur Hatham Gabr bekannte damals, »die Arbeit hier schützt mich vor Depressionen, vor dem Gefühl, diesem System hilflos ausgeliefert zu sein nach dem Arabischen Frühling. Sie schützt mich vor der Verzweiflung, dass alles vergebens war.«


Jörg Armbruster arbeitet seit über vier Jahrzehnten als Journalist. Für die ARD berichtete er lange als Auslandskorrespondent aus dem Nahen Osten, meist aus Kairo, daneben auch aus Bagdad. Zudem moderierte Armbruster für mehrere Jahre die Sendung »Weltspiegel«.

Von: 
Jörg Armbruster

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