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Ägypten 1979 - Ein Essay

Der Ölzweig und die Peitsche

Essay
Ägypten 1979 - Ein Essay

Camp David belohnte Ägyptens Armee für den Friedensschluss – bereitete aber auch den Weg für den repressiven Überwachungsstaat. Ein Zusammenhang, der mir erst in den Revolutionstagen 2011 wirklich bewusst wurde.

Wie viele Ägypter bin ich ohne wirkliche politische Bildung aufgewachsen. Ich habe das gelernt, was in meinem Umfeld Mainstream war, und mein Umfeld hatte genauso wenig Ahnung wie die Mehrheit im Land.

 

Mir wurde mitgegeben, dass Gamal Abdel Nasser der erste Präsident Ägyptens war, dass Anwar al-Sadats Friedensschluss mit Israel eine visionäre Tat war und dass Hosni Mubarak ein weiser Anführer ist. Das Bild von Israel schwankte zwischen Gegensätzen, zwischen zivilisierter Demokratie oder der Inkarnation des Teufels. Ansonsten wurde über Geschichte und Politik nicht viel geredet.

 

Vieles, was ich damals für wahr gehalten habe, hat sich als Propaganda herausgestellt. Ich war unfähig, diese als solche zu erkennen. Wie hätte ich es auch können? Ich war ja nur der einen Sicht auf die Geschichte ausgesetzt und stolperte so gut wie niemals über Dinge, die dieser Sicht widersprachen.

 

Ich bin abwechselnd in Ägypten und anderen Ländern aufgewachsen, je nachdem, wo mein Vater Arbeit fand. Meine Eltern suchten aus wirtschaftlichen Gründen Zuflucht in den Golfstaaten. Obwohl mein Vater ein Ingenieur war – ein Beruf mit hohem Ansehen in der ägyptischen Gesellschaft –, gab es in der Heimat kaum Möglichkeiten, ein vernünftiges Einkommen zu haben.

 

Gleichzeitig machte eine Gruppe, die der herrschenden Elite nahestand, ein Vermögen wie aus dem Nichts. Sie profitierten von Sadats »Infitah«, einer Politik, die privaten Investoren die Türen »öffnete«. Während diese Türen aufgingen, wurde eine ganze Reihe andere verschlossen.

 

Das Bild von Israel schwankte zwischen Gegensätzen, zwischen zivilisierter Demokratie und der Inkarnation des Teufels

 

Um der wirtschaftlichen Misere in Ägypten zu entfliehen, kamen viele Ägypter an den Golf. Im Austausch für das Geld exportierten die Golfstaaten ihren Konservatismus nach Ägypten. Dieser Konservatismus gepaart mit Diskriminierung machte es für Angehörige der christlichen Minderheit noch wichtiger, das Land verlassen zu können. Ich fand mich wieder zwischen einer westlichen Bildung in bestimmten Schulen am Golf und einer Gesellschaft in der arabischen Welt, die immer konservativer wurde.

 

Mein Wissen über den arabisch-israelischen Konflikt war oberflächlich und das Narrativ, das mir dargeboten wurde, eher einfältig. Ein einschneidendes Erlebnis war für mich ein Auftritt in einer englischsprachigen Fernsehsendung im ägyptischen Fernsehen. Das Thema war Palästina. Ich wurde nur eingeladen, weil ich fließend Englisch spreche und jung genug war für die jugendliche Zielgruppe der Sendung.

 

Als ich dran war, gab ich wie ein Papagei einfach das wieder, was ich mein Leben lang in nicht besonders tiefgründigen Gesprächen gehört hatte: dass die Palästinenser ihr Land verkauft haben und starrköpfig das Friedensangebot von Sadat ausgeschlagen haben. Ein Geschichts- und Politikerprofessor widersprach mir vehement. Nachdem ich seine Aussagen überprüft hatte, fragte ich mich, mit wie vielen anderen Lügen ich jahrelang gespeist wurde.

 

Es gab nicht den einen Moment der Klarheit, vielmehr waren es mehrere Erlebnisse, in denen Widerspruch und Realität mein Weltbild erschütterten und die ganzen Lügen Schicht für Schicht abblätterten.

 

Ich hätte mein ganzes Leben verbringen können, ohne zu ahnen, wie sehr Camp David meine Welt geprägt hat, wenn es nicht zur Revolution gekommen wäre. Wir wurden direkt mit den Folgen konfrontiert in der Zeit vor und nach dem Aufstand am 25. Januar 2011.

 

Die Leere in den Medien vor der Revolution hatte zur Folge, dass sich nur wenige Menschen wirklich für Politik interessierten. Das änderte sich mit dem 25. Januar. Die Pest der Falschinformationen, die heute das Internet dominieren, war noch nicht ausgebrochen. So war es möglich, Fragen nachzugehen, Fakten zu recherchieren, ohne sich durch den von Trollen und Propagandisten hinterlassenen Müll zu wühlen. Den Mächtigen erschien das Internet noch nicht als so bedrohlich, als dass sie den Zugang hätten einschränken müssen.

 

Dank der US-Gelder baute die Armee ihre Machtbasis aus. Eine Wirtschaftskultur, die darauf gesetzt hätte, eigene Kapazitäten aufzubauen, wurde nie angestrebt

 

Als die Polizei am Abend des 28. Januar kollabierte, hatte das ägyptische Militär die Wahl: Sollte es sich auf die Seite der Bevölkerung stellen oder auf die von Mubarak? Es entschied sich weder für die eine noch für andere Seite, es stand allein auf der eigenen Seite. Das bedeutete, alles so zu lassen, wie es war, und nur ein paar Köpfe auszutauschen. Die Bevölkerung hatte erwartet, dass das Militär die Demonstranten unterstützen würde, so wie in Tunesien. Aber das Militär hatte zu starke Eigeninteressen.

 

Infolge des Camp-David-Abkommens wurde Ägypten zum zweitgrößten Empfänger von Geldern aus den USA. Das Militär wurde von Washington mit viel Geld abgefunden, damit es sich mit anderen Dingen beschäftigt als mit einem möglichen Krieg mit Israel. Leider gab dies der Armee Zeit und Ressourcen, das eigene Wirtschaftsimperium auszubauen.

 

Die Ausrichtung an den USA und die Hinwendung zum Kapitalismus führten zu einem stetigen Verfall der sozialen Absicherung für weite Teile der Bevölkerung. Offenkundig verfiel Ägypten in ein lethargisches Konsumdenken. Eine Wirtschaftskultur, die darauf gesetzt hätte, eigene Kapazitäten aufzubauen, wurde nie angestrebt.

 

Entsprechend der Versuche der Regierung, den Ägyptern das Camp-David-Abkommen schmackhaft zu machen, wurden ständig zwei sich widersprechende Botschaften vermittelt: Erstens, dass der Friedensvertrag für die Ägypter ein Sieg war, so wie der Jom-Kippur-Krieg, den wir als den »Krieg des 6. Oktober« bezeichnen, und zweitens, dass eine US-israelische Verschwörung für alle Schwierigkeiten in Ägypten verantwortlich sei.

 

Ein genauer Blick auf die US-Haushaltszahlen, die offenen Kommunikationsverbindungen nach Israel oder auch das Camp-David-Abkommen selbst hätte genügt, um diese Botschaften anzuzweifeln. Aber es guckte ja kaum jemand genauer hin.

 

Wenn ich auf die ägyptische Geschichte schaue und auf den Zustand jetzt, dann fällt mir auf, wie sehr die Dinge zusammenhängen. Die Revolution hat Ungerechtigkeiten in den Mittelpunkt gerückt und sie hat mich sensibilisiert für Ungerechtigkeiten, die anderswo geschehen und geschehen sind.

 

Das fängt an bei der Apartheid in Südafrika. Wie ähnlich ist doch der Umgang Israels mit den Palästinensern. Die Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Regierung klingt doch genauso wie die Propaganda der ägyptischen Regierung. Die internationale Gemeinschaft nimmt es einfach so hin, wenn Palästinenser in Verwaltungshaft genommen oder getötet werden, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Die Parallelen zwischen der Unterdrückung durch Israel als Besatzungsmacht und dem, was wir in Ägypten durch das Militärregime erlebt haben, sind bestürzend.

 

Was vor vier Jahrzehnten angefangen hat, ist noch nicht abgeschlossen. Solange Ungerechtigkeit herrscht, können wir nicht darüber hinweggehen, selbst wenn wir von der Geschichte wenig verstehen. Das Camp-David-Abkommen liest sich heute eher wie eine Kapitulation. Die Opfer sind die ägyptische Bevölkerung, die von einem Militär unterworfen wird, das vom Abkommen profitiert, und die Palästinenser, deren Leben mit jeder israelischen Gewalttat weniger wert sind.

 

Hätte unsere Zukunft anders ausgesehen, wenn wir dauerhaft mit der Bedrohung gelebt hätten, dass jederzeit ein Krieg ausbrechen kann?

 

Wie eine Verhöhnung kommt es mir vor, dass Israel das Sisi-Regime rückhaltlos unterstützt und bei den Vereinigten Staaten darum geworben hat, den Putsch anzuerkennen und zu Menschenrechtsverletzungen der jetzigen Regierung zu schweigen.

 

Im Norden des Sinai wurden zahlreiche Bewohner durch Militäroperationen vertrieben – eine Nachrichtensperre verhindert, dass Details bekannt werden. Trotz dieser Gewalttaten gegen die eigene Bevölkerung hilft die internationale Gemeinschaft Ägypten finanziell aus der Patsche. Und Ägypten beteiligt sich an der Blockade des Gaza-Streifens, die es den Bewohnern verwehrt, ein anständiges Leben zu führen.

 

Für mich ist Camp David nicht nur ein Ereignis, das meine Umgebung geprägt hat. Es ist für mich auch eine persönliche Reise, um diese Umgebung und die Welt zu verstehen. Politik geschieht einem – aber es gibt einige von uns, die versuchen zu verstehen, und andere, die nicht bereit sind, einen Schritt zurückzutreten, um den Blick fürs Ganze zu bekommen.

 

Das heutige Ägypten mit seiner Ungerechtigkeit ist ein Produkt unserer Geschichte. Daran kommt man nicht vorbei. Aber hätte unsere Zukunft anders ausgesehen, wenn wir dauerhaft mit der Bedrohung gelebt hätten, dass jederzeit ein Krieg ausbrechen kann? Wären nicht viel mehr Ägypter ums Leben gekommen? Schwer zu sagen. Klar ist aber, dass die Geschichte so, wie sie verlaufen ist, dazu geführt hat, dass die Lage der Menschenrechte in unserem Land heute so schlimm ist wie nie zuvor.


Wael Eskander wurde 1980 geboren und verbrachte seine Kindheit zwischen Ägypten und den Golfstaaten. Schon vor dem Arabischen Frühling war er politisch aktiv und gründete 2006 seinen Blog »Notes from the Underground«. Als freier Journalist schrieb Wael Eskander unter anderem für Al-Ahram, Daily News Egypt, Jadaliyya und Mada Masr.

Von: 
Wael Eskander

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