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Wahlen und Repressionen in Ägypten

Paranoider Nationalismus statt politischer Neuanfang

Analyse

Offiziell folgt Ägypten mit dem Wahltermin im Oktober dem Fahrplan zur demokratischen Stabilisierung. Tatsächlich schränkt Präsident Abdelfattah El-Sisi seit zwei Jahren kontinuierlich die politische Bewegungsfreiheit ein.

Nach zwei Jahren repressiver Politik gegenüber Oppositionellen jeglicher politischer Couleur kündigte Ägyptens Regierung Anfang September Parlamentswahlen an. Die Wahlen sollen zwischen Oktober und November dieses Jahres stattfinden. Bis Ende des Jahres soll das Land wieder ein gewähltes Parlament haben.

 

Es wären die ersten Parlamentswahlen seitdem der Oberste Gerichtshof im Juni 2012 das erste frei gewählte Parlament seit der Revolution auflöste. Im »Majlis Al-Sha'ab« (Volksversammlung) genannten ägyptischen Parlament stellte die Partei »Freiheit und Gerechtigkeit« der Muslimbrüder mit rund 40 Prozent der Abgeordneten damals die größte Fraktion. Zusammen mit der salafistischen Al-Nour-Partei besetzten die Muslimbrüder sogar mehr als die Hälfte der Sitze. Die Wahlen sind Teil des von Präsident Abdel Fattah El-Sisi anvisierten Fahrplans und sollten laut ursprünglichem Plan bereits im letzten Jahr stattfinden.

 

Der erste Schritt dabei war das Verfassungsreferendum von Januar 2014, in dem Ägyptens neue Regierung die von ihr vorgenommenen Verfassungsänderungen per Referendum absegnen ließ. Die spektakuläre Zustimmungsrate von 98 Prozent der Wähler ist allerdings irreführend: Die Gegner der Verfassungsänderungen erklärten den Prozess als illegitim und boykottierten die Wahl. Wegen der geringen Wahlbeteiligung ließ Ägyptens Regierung die Abstimmungsphase um einige Tage verlängern, um zumindest auf eine Wahlbeteiligung von letztlich 39 Prozent der Stimmen zu kommen.

 

Im zweiten Schritt ließ sich Ex-General Sisi im Mai 2014 zum Präsidenten wählen. Viele Kandidaten, die in Opposition zur neuen ägyptischen Regierung standen, verzichteten von Anfang an auf eine Kandidatur. Nach der Verhaftung oder Disqualifizierung etlicher Kandidaten aus dem islamistischen Lager war der Links-Nasserist und Ex-Präsidentschaftskandidat von 2012, Hamdeen Sabbahi, schließlich der einzige Kandidat, der bereit war, gegen Sisi ins Rennen zu gehen.

 

Ein großer Teil der Regierungsgegner bezeichnete die Wahl als Farce und rief wie schon zuvor zum Boykott auf. Bei einer Wahlbeteiligung von 47 Prozent bekam Sisi 97 Prozent der Stimmen. Zu den nun angekündigten Präsidentschaftswahlen sollen Parteien wie auch individuelle Kandidaten zugelassen sein. Einige hochrangige Funktionäre des alten Regimes scheinen nun an einer Rückkehr auf die politische Bühne zu arbeiten.

 

Der bekannteste unter ihnen ist Ahmad Ezz, ein Stahlmagnat, der zu Zeiten Mubaraks dem Haushaltskomitee der alten Staatspartei NDP vorstand. Ezz wurde im Jahr 2012 wegen Korruption und Geldwäsche zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, ein Berufungsgericht hat die Strafe im August 2015 gekippt. Noch im Februar diesen Jahres entschied ein Gericht in seinem alten Wahlkreis im Nildelta, seine Kandidatur nicht zuzulassen, doch die aktuelle Wahlkommission kündigte an seine Kandidatur erneut zu prüfen.

 

Ahmad Ezz protestierte mit den Worten seine Disqualifizierung »verstoße gegen die Werte der Revolution« – ein Beispiel dafür, wie sehr die Bezugnahme auf den Umsturz vom Februar 2011 zu einer Worthülse geworden ist, die quer durch die politischen Lager hinweg verwendet wird – selbst von Personen, die ehemals dem engsten Kreis des alten Regimes angehörten. Ahmad Ezz ist für viele Ägypter nach wie vor ein Synonym für die Korruption und Misswirtschaft des alten Regimes. Seine Rückkehr auf die politische Bühne ist vielleicht das schillerndste Beispiel der Rehabilitierung der Loyalisten des alten Regimes, die 2011 und 2012 noch abwertend »Fulul« (in etwa: »Seilschaften«) genannt wurden.

 

Mubaraks alte Seilschaften suchen neue Nähe zum Sisi-Regime

 

Im August rückte Ahmad Ezz der neuen Macht noch etwas näher: Er zählte zu den Hauptsponsoren bei der Eröffnungsfeier der zweiten Fahrrinne des Suez-Kanals. Der Bau war eines der Prestige-Projekte von Präsident Sisi. Um den Bau zu finanzieren gab, die Regierung Anleihen in Höhe von 8,5 Milliarden US-Dollar aus, welche innerhalb einer Woche vergriffen waren. Mitglieder der ägyptischen Regierung feierten die zügige Fertigstellung als »Symbol des neuen Ägyptens« und als »Wiedergeburt des Landes«.

 

Kritiker monieren, dass die Baukosten besser in Infrastruktur, öffentlichen Nahverkehr, neue Kraftwerke und erschwinglichen Wohnungsbau investiert worden wären. Während sich verschiedene Kandidaten und politische Strömungen für den Wahlkampf in Position bringen, scheint eine Unterschriften-Kampagne zum Verbot religiöser Parteien an Zugkraft zu gewinnen. Die Initiative mit dem Namen »Nein zu religiösen Parteien« hat sich zum Ziel gesetzt, 25 Millionen Unterschriften zu sammeln, um solch einen Schritt rechtlich durchzusetzen.

 

Der Koordinator der Kampagne, Mohamed al-Houty, verweist auf Artikel 74 der ägyptischen Verfassung, wonach »die Bildung von politischen Parteien auf der Basis von Religion oder der Diskriminierung anhand von Geschlecht oder Ethnie« verboten ist. Die Kampagne hat vor allem die Parteien der Salafisten im Visier. Al-Houthy wirft den islamistischen Parteien vor, offen für die Einführung der Scharia einzutreten und eine konfessionelle und vor allem gegenüber Frauen und Christen diskriminierende Agenda zu vertreten.

 

Die größte unter den salafistischen Parteien ist Al-Nour, die vorübergehend als Alliierter der Muslimbrüder galt, sich nach der Machtübernahme des Militärs aber auf die Seite der neuen Machthaber stellte. Trotz ihrer betonten Loyalität zur ägyptischen Regierung, wirft Al-Houty den Parteivertretern vor, beispielsweise während des Singens der Nationalhymne nicht aufzustehen.

 

Als Staatsfeind und potentieller Terrorist gilt jeder, der oppositionelle Positionen vertritt

 

Mangelnde »nationaler Verlässlichkeit« ist nicht nur in Ägypten ein weit verbreiteter Einwand gegenüber islamistischen Strömungen. Ebenso verbreitet war nach der Machtübernahme des Militärs der Vorwurf an die Muslimbrüder, als Organisation mit Ablegern in vielen Ländern eine »anti-nationale« Agenda zu verfolgen und letztlich ein »Kalifat« anzustreben.

 

Die Extremisten vom »Islamischen Staat« (IS), die im vergangenen Sommer medienwirksam die Grenzzäune zwischen Syrien und dem Irak mit Baggern plattgewalzten, dienten vielen Vertretern dieser These als Bestätigung, auch wenn der IS und die ägyptischen Muslimbrüder wenig miteinander gemein haben. Doch in der Rhetorik der ägyptischen Regierung und ihrer Unterstützer existiert diese Unterscheidung nicht – als Staatsfeind und potentieller Terrorist gilt jeder, der oppositionelle Positionen vertritt.

 

Ein Beispiel dafür ist, dass die Organisatoren der Kampagne auch die Partei »Starkes Ägypten« von Abdel-Moneim-Aboul-Fotouh auf ihre »schwarze Liste« gesetzt haben. Aboul-Fotouh war langjähriges Mitglied der Muslimbrüder, trennte sich aber nach dem Sturz von Hosni Mubarak von der islamistischen Bewegung. Er wurde bekannt dafür, unkonventionelle Positionen zu vertreten, die nicht den klassischen politischen Lagern entsprachen, die sich nach der Revolution herauskristallisierten.

 

Dadurch zog er nicht nur moderate Islamisten an, sondern auch einen beträchtlichen Teil der jungen Generation, die erst durch die Revolution politisiert wurde. In den vergangenen zwei Jahren wurde die Partei zum Sammelbecken verschiedener oppositioneller Haltungen gegenüber der neuen ägyptischen Regierung – was der Partei von seitens der Regierungs-Loyalisten wiederum den Vorwurf einbrachte, »Terrorismus zu unterstützen«.

 

Anti-Terror-Gesetzgebung gibt Regierung und Armee ein Monopol auf die Berichterstattung vom Sinai

 

Es ist davon auszugehen, dass die Unterschriften-Kampagne neben Unterstützern der Sisi-Regierung auch von beträchtlichen Teilen der linken und liberalen politischen Gruppen mitgetragen wird. Doch trotz ihrer Betonung von liberalen Werten, die von religiösen Parteien gefährdet seien, ist sie auch ein Symptom dafür, dass in Ägypten derzeit die dominante politische Alternative zu den Islamisten der paranoide Nationalismus ist, der durch die Regierung befördert wird.

 

Politische Strömungen, die versuchen, ein »drittes Lager« zwischen Regierung und Islamisten zu besetzen, haben in der aufgeladenen Stimmung im Land kaum Raum sich zu entfalten, weil alle Kritiker der Regierung pauschal mit dem Vorwurf der »Staatsfeindschaft« überzogen werden. Das im August von der Regierung erlassene Anti-Terror-Gesetz spiegelt wider, mit welcher Vehemenz die Regierung mittlerweile versucht, abweichende Meinungen gar nicht mehr in den öffentlichen Raum vordringen zu lassen.

 

Der Gesetzesentwurf wurde ins Rollen gebracht, nachdem militante Islamisten Anfang Juli versuchten, die zweitgrößte Stadt des Nordsinai, Sheikh Zuweid, unter ihre Kontrolle zu bringen. Den Gefechten fielen rund 100 Menschen zum Opfer – es waren die heftigsten Kämpfe auf der Halbinsel seit dem Yom-Kippur-Krieg 1973. Im Anschluss an die Gefechte verhängte die Armee eine Nachrichtensperre auf dem Nordsinai. Mit der neuen Anti-Terror-Gesetzgebung soll Regierung und Armee ein Monopol auf die Berichterstattung gesichert werden.

 

Journalisten, die Versionen verbreiten, die jener der Armee widersprechen, können zu Geldstrafen von umgerechnet bis zu 50.000 Euro verurteilt werden – was für die meisten das Ende ihrer Karriere bedeuten würde. Der Generalsekretär von »Reporter ohne Grenzen«, Christophe Deloire, sagt dazu: »Ägypten nimmt Kurs auf eine Orwell'sche Welt, in der nur die Regierung die Erlaubnis hat zu sagen, was passiert. Selbst in Ländern, in denen die Pressefreiheit stark eingeschränkt ist, gibt es kaum Gesetze, die so massiv versuchen, die Informationsströme zu kontrollieren.«

Von: 
Martin Hoffmann

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