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Waffenstillstand im Algerienkrieg

Ende mit Schrecken

Feature

Vor 50 Jahren Jahren wurde in Évian-les-Bains der Waffenstillstand im Algerienkrieg unterzeichnet, am 19. März 1962 trat er in Kraft – und markierte das offizielle Ende eines Krieges, den Frankreich erst 1999 als solchen anerkannte.

»Ich war froh, als der Waffenstillstand unterschrieben wurde. Mir war jedoch klar, dass das nicht das Ende, sondern der Anfang eines langen Weges sein würde«, sagt Idir Ben Khider, ein ehemaliger »Moudjahidine«, wie die Unabhängigkeitskämpfer der FLN, der »Front de Libération National«, genannt werden. Und er sollte Recht behalten. Noch lange nach der Unterzeichnung der Waffenstillstandsverträge, den »Accords d’Évian«, gab es blutige Auseinandersetzungen, Rachefeldzüge und Vergeltungsschläge auf beiden Seiten.

 

Es muss dem damaligen Präsidenten Frankreichs, Charles de Gaulle, klar gewesen sein, dass Algerien, dass bereits 1830 gegen die Osmanen erobert wurde, viel Blut kosten würde, um es halten zu könnten. Bereits im Januar 1960 probten französisch-nationalistische Offiziere in dem als »Barrikadenputsch« bekannt gewordenen Aufstand gegen den eigenen Staat und mussten später kapitulieren. Am 22. April 1961 putschten vier hochrangigen Generälen und warfen de Gaulle »Verrat« vor, weil er bereit war, Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Doch nach dem zweiten Weltkrieg und den verlustreichen Schlachten in Indochina, speziell in Dien-Bien-Phu, war die Strapazierfähigkeit der Armee und der Bevölkerung in Frankreich ausgereizt und viele Kolonien mussten in der Folge bereits in die Unabhängigkeit entlassen werden.

 

Über Jahrhunderte gebaut und in Minuten zerstört

 

Dies sollte jedoch mit Algerien, dass aus der französischen Perspektive eben keine Kolonie darstellte, sondern eine Erweiterung des europäischen Mutterlandes war, nicht passieren. Mehr als ein Jahrhundert lang wurden abertausende Araber und Berber vertrieben und das fruchtbare Land an der Küste und in den Bergen den französischen Siedlern zugewiesen. Das sollte mit Beginn der Unabhängigkeitsbestrebung der Algerier sein Ende finden. Viele Generationen kämpften bereits für diese Unabhängigkeit und gegen die Unterdrückung. Auch Ben Khidir wollte dafür kämpfen: »Wir hatten genug von dieser Unterdrückung und wollten uns wehren.« Der Kabyle hatte miterlebt, wie sein Dorf von Kampfflugzeugen zerstört wurde. »Über Jahrhunderte wurde unser Dorf aufgebaut und dann von den Franzosen innerhalb von wenigen Minuten zerstört.«

 

Am 23. Oktober 1954 versammelten sich in einer unscheinbaren Gasse in dem Fischerdorf Rais Hamidou am Rande von Algier die sechs Anführer der FLN und beschlossen, fortan dem militärisch, organisatorisch und finanziell weit überlegenen Gegner gemeinsam entgegenzutreten,  Der Kampf sollte zu den Franzosen getragen werden, was bedeutete, dass die Auseinandersetzungen nicht mehr nur auf dem Land, sondern auch in den Städten und vor allem in der Altstadt, der Kasbah, Algiers ausgetragen werden sollte.

 

Den »Pieds Noirs« und den »Harkis« drohte Mord und Totschlag

 

Obwohl die Franzosen militärisch überlegen waren, hatten sie es nicht leicht. Die französischen Siedler wurden Opfer von Anschlägen und Rachefeldzügen des bewaffneten Arms der FLN, der sich ALN (»Armée de Libération Nationale«) nannte. Viele Franzosen kannten das europäische Frankreich gar nicht. Die »Pieds Noirs – Schwarzfüße« genannten algerischen Franzosen lebten bereits seit Generationen in Algerien und sollten nun das Land, Hof und Häuser wieder den Arabern und Berbern zurückzugeben. Für sie bedeutete es alles aufzugeben und in Frankreich neu anzufangen, denn in Algerien drohte ihnen Mord und Totschlag. Auch den algerischen Helfern in der französischen Armee, den »Harkis« erging es nicht besser. Sie wurden zunächst von der französischen Armee entwaffnet und sich selber überlassen. Auch ihnen drohte im neuen Algerien als Verräter und Kollaborateure der Tod. Viele von ihnen haben versucht, sich nach Frankreich durchzuschlagen.

 

Aber die Siedler waren nicht der Hauptgrund, weswegen Algerien ein besonders schmerzvoller Verlust für die Franzosen darstellte. Noch am 20. Mai 1961 hatte de Gaulle versucht, am Verhandlungstisch in Evian die Kontrolle über Gebiete in der Sahara zu behalten, weil dort große Rohstoffreserven vermutet wurden. Außerdem gab es dort Testanlagen für die atomare Bewaffnung. Zunächst wurden die Gespräche ohne Ergebnis abgebrochen. Später dann erkannte de Gaulle die Sahara als algerisches Territorium an, konnte dafür aber die Nutzung der Atombombentestanlage ebenso wie einige Marinestützpunkte, unter anderem Mers-el-Kébir, Frankreich für 5 weitere Jahre sichern. Mehr war für die Franzosen ohne Blutvergießen nicht drin.

 

»Die Angelegenheit liegt ein halbes Jahrhundert zurück«

 

»Es ist inzwischen ein halbes Jahrhundert her und ich hege kein Groll mehr gegenüber den Franzosen«, sagt Idir Khidir. Der alte Kriegsveteran lebt im Atlas-Gebirge in der großen Kabylei. »Wir haben andere Probleme, als uns um Angelegenheiten zu kümmern, die ein halbes Jahrhundert zurück liegen.« Das sehen der französische Präsident Nikolas Sarkozy, der sich im Augenblick im Wahlkampf befindet und die Stimmen der »Pieds Noirs« braucht, aber auch der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika, der ohne ein Schuldeingeständnis der Franzosen, sein Gesicht verlieren würde, ganz anders und das wird sich in absehbarer Zeit auch nicht so schnell ändern. Auch 50 Jahre nach dem Waffenstillstandsabkommen bleiben die Fronten verhärtet.

Von: 
Özgür Uludag

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