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Vielfalt im Nahen Osten

Die Zerstörung der Vielfalt im Nahen Osten

Essay

Rund 20 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen leben seit Jahrhunderten in diesen Gebieten. In bunter Vielfalt durchmischten sich die Menschen. Was ist passiert, dass dort islamistische Terroristen wie ISIS ihr Unwesen treiben können?

Die Mandatsmächte England und Frankreich schufen Syrien und den Irak nach dem Ersten Weltkrieg aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches. Die Siedlungsgebiete der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen wurden durch künstliche Grenzen zum Teil zerschnitten. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte der arabische Nationalismus, den Menschen eine neu, übergeordnete Identität zu geben. Die präsidial herrschenden Generäle Saddam Hussein im Irak und Hafiz al-Assad in Syrien legitimierten ihre Herrschaft zusätzlich einer arabischen Spielart des Sozialismus: Die Einnahmen des Staates sollten allen Menschen zugute kommen.

 

Krankenhäuser, Schulen, Straßen, Neubauviertel, Industriebetriebe – Assad und Hussein führten ihre Länder in die Moderne. Scheinbar profitierten alle gesellschaftlichen Schichten, man heiratete über ethnische und religiöse Grenzen hinweg, man bezog Apartments in modernen Wohnvierteln, der Lebensstil war westlich. Die Präsidialdiktaturen von Assad und Hussein genossen große Zustimmung bei den Menschen. Doch ab den 1980er Jahren ersetzten die herrschenden Eliten in Bagdad und Damaskus ihre Politik der großzügigen Modernisierung für alle durch eine Strategie egoistischer Gier nach Macht und Geld.

 

Die herrschenden Cliquen nutzten die neuen ökonomischen Möglichkeiten der Globalisierung allein für sich aus: die Staatsfirmen überführten sie in ihren eigenen Besitz oder sie gründeten Unternehmen, die den lukrativen Handel kontrollierten und Geldströme monopolisierten. Diese Wirtschaftspolitik beförderte Korruption, Vetternwirtschaft und Anhäufung von Reichtum bei wenigen. Das soziale Gefüge geriet außer Balance. Armenviertel entstanden, in denen dann zu nehmend Islamisten die soziale Fürsorge übernahmen.

 

Saddam und Assad lösten ihre Versprechen nicht ein und beraubten ihre Staaten

 

Das Ende des Ost-West Konfliktes nutzten Assad und Hussein, um auf Landgewinn auszugehen, die Kolonialgrenzen zu ihren Nutzen zu verschieben: Der Syrer zündelte im libanesischen Bürgerkrieg und machte sich ab 1991 quasi zum Schattenherrscher des Libanon. Hussein ging waghalsiger vor. Er brach einen achtjährigen Krieg gegen Iran vom Zaun und besetzte 1990 das Öl-Emirat Kuwait. Die kriegerischen Abenteuer und die verunglückte Sozialpolitik brachten die Regime von Hussein und Assad in ein Legitimationsdefizit.

 

Widerstand regte sich in Teilen der Bevölkerung. Um an der Macht zu bleiben, bauten sie ihre eigenen Geheimdienste weiter aus und spielten die längst überwunden geglaubten ethnischen und religiösen Orientierungen ihrer Bürger gegeneinander aus. Einst förderten sie Vielfalt, jetzt bedrohten sie sie. Vielfalt in Syrien zerbricht: Hafiz al-Assad ließ bereits 1982 einen Aufstand von Sunniten im verarmten Hama durch Zerstörung der gesamten Stadt brutal niederschlagen. Sein Sohn Baschar reagierte auf die friedliche Revolte seiner Bürger 2011 mit Waffengewalt statt mit Reform, Teilhabe und Kompromiss.

 

Er bricht einen Bürgerkrieg vom Zaun. Assads alawitische Minderheit kämpft gegen die sunnitische Mehrheit, die Kurden spalten sich ab, die Christen stehen zwischen den Fronten, alle Gruppen radikalisieren sich. Der Bürgerkrieg in Syrien nimmt ab 2013 groteske und dramatische Formen an: Islamistische Terroristen der ISIS, die sich auf Teile der sunnitischen Bevölkerung stützen, und Assads Truppen kämpfen nicht gegeneinander, sondern de facto gemeinsam gegen das bunte Volk der Revolutionäre und die Freie Syrische Armee.

 

Neben fast 200.000 Toten sind 10 Millionen Syrer auf der Flucht. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Der Hass zwischen den ethnischen und religiösen Bevölkerungsgruppen ist immens. Syrien wird zum gescheiterten Staat, der in die vier Herrschaftsbereiche Assad-Land, ISIS-Land, Rebellenhochburgen und Kurdengebiet zerfallen ist.

 

Saddams Irak wurde über Nacht zum »sunnitischen« Regime

 

Vielfalt im Irak zerbricht: Nachdem amerikanische Truppen Saddam Hussein 1991 aus Kuwait  vertrieben haben, wankte seine Macht in Bagdad. Die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden verlangten mehr Autonomie von ihm. Doch Saddam Hussein setzte seit 1991 seinen sunnitischen Zentralstaat durch, bekämpfte die Kurden und unterdrückte die Schiiten. Überall im Land verschwinden die Bilder von Saddam Hussein als General stattdessen hängen Konterfeis von Saddam Hussein als frommer Mekka-Pilger an allen öffentlichen Orten.

 

Der Islam muss nun zur Legitimation der Saddam-Diktatur und die sunnitischen Stämme als letzte Machtbasis herhalten. Da verwundert es wenig, dass mit der amerikanischen Besetzung des Irak ab 2003 die Kurden Stück für Stück im Norden einen eigenen Staat errichten und die Schiiten die Sunniten im Zentralirak von den Schaltstellen der Macht vertreiben. Diesen Machtverlust hat die Minderheit der Sunniten im Irak nach dem Sturz Husseins nie richtig verkraftet.

 

Andererseits haben die seit 2003 in Mehrheit regierenden Schiiten, insbesondere seit Premierminister Nuri al-Maliki an der Macht ist, nicht wirklich versucht, den Sunniten einen Anteil an der politischen Macht und der Öleinnahmen zu geben. Auf dieser Frustwelle der sunnitischen Minderheit im Irak und der sich im Stich gelassen fühlenden sunnitischen Mehrheit Syriens segelt ISIS seit 2013 im Bürgerkrieg in Syrien wie im Bürgerkrieg im Irak von Erfolg zu Erfolg. ISIS herrscht im Osten Syriens von der Provinzhauptstadt Raqqa bis in den Westen des Iraks und dessen Provinzhauptstadt Mossul. Ihr Herrschaftsregime ist äußerst brutal. Nicht-Sunniten werden getötet, vertrieben oder drangsaliert. Ihre Auslegung religiöser Gebote ist haarsträubend.

 

Eine Lösung gibt es nur, wenn die Rechte aller ethnischen und religiösen Gruppen verbrieft werden

 

So ist die Vielfalt im Irak und in Syrien quasi zerstört. Soziale Not, Konflikte, Kriege und Chaos haben die Menschen in ihren religiösen und ethnischen Identitäten einigeln lassen. Wo früher in Bagdad die Bürger gemischt wohnten, leben Sie heute in unterschiedlichen Stadtvierteln, um die große Mauern gezogen sind und die man nur über Checkpoints erreichen kann. Andere Iraker sind auf der Flucht im Lande sowie in die Nachbarstaaten.

 

Sie teilen das tragische Schicksal ihrer syrischen Nachbarn, von denen jeder dritte auf der Flucht ist. Eine Mitschuld an Konflikt und Krieg in Syrien und dem Irak, an der Bedrohung und Zerstörung der ethnischen und religiösen Vielfalt, tragen die Regierungen in Teheran und in Riad. Iran sieht sich als Schutzmacht der Schiiten im Nahen Osten und befördert Maliki in Bagdad und Assad in Damaskus. Saudi-Arabien sieht sich als Schutzmacht der Sunniten und unterstützt unterschiedliche islamistische Gruppen und Kämpfer unter den Sunniten im Irak und Syrien.

 

Diverse Geldquellen aus der Golfregion fließen auch in ISIS-Taschen. Die Regierung Erdogan in Ankara schaut mit Argusaugen auf kurdische Staatlichkeit an seinen Grenzen und befördert sunnitische Kämpfer in Syrien. Terroristen müssen bekämpft werden. Aber alle ethnischen und religiösen Gruppierungen haben ein Anrecht auf politische, soziale und ökonomische Teilhabe; Syrer und Iraker müssen miteinander neue Gesellschaftsverträge schließen. Das scheint aussichtslos im Angesicht des blutigen Alltages, ist aber unabdingbar für die Zukunft.

 

Die internationale Gemeinschaft muss sich noch mehr um die Flüchtlinge kümmern. Sie muss dringend die Regierungen in Ankara, Teheran und Riad an den Verhandlungstisch bringen, damit sie ihre regionalen Vormachtkämpfe friedlich beilegen und somit wenigstens der regionale Sprengstoff von den lokalen Zündern getrennt wird.


Christian Hanelt berichtete in den 1990er Jahren unter anderem als Fernsehjournalist aus Irak und Syrien und erstellte als Nahostexperte der Bertelsmann-Stiftung u.a. das EU Spotlight 01/2013 zu Syrien und das Dossier »Ergebnisse arabische Welt« des Bertelsmann Transformations-Indexes (BTI) 2014. Irak und Syrien rangieren seit Jahren gerade in der Kategorie »Gutes Regieren« im BTI auf den untersten Rängen.

Von: 
Christian-Peter Hanelt

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