Lesezeit: 7 Minuten
Verschwinden von Hamed Abdel-Samad

Was hinter der Entführung steckt

Kommentar
von Hoda Salah

Nach dem Verschwinden des Publizisten Hamed Abdel-Samad einigten sich viele Medien voreilig auf Islamisten als Drahtzieher – eine Reaktion, die ebenso reflexhaft wie kontraproduktiv ist.

Am 24. November ist der deutsch-ägyptische Autor Hamed Abdel-Samad laut Aussage seines Bruders Mahmoud entführt worden. Am 25. November beschuldigte dieser dann per Fernsehinterview die Geschäftspartner seines Bruders, hinter dessen Verschwinden zu stecken. Gleichzeitig schloss er nicht aus, dass radikale Islamisten für die Entführung verantwortlich sein könnten.

 

Schließlich hatten Salafisten im März dieses Jahres eine Todesfatwa gegen Abdel-Samad ausgesprochen, weil er durch seine Bücher und Vorträge in Kairo den Islam als »faschistische Religion« bezeichnet habe. Obgleich die ägyptische Regierung weder die Entführung bestätigte, noch die Hintergründe näher aufklärte, ging ein Großteil der Medien in Ägypten und Deutschland fast unisono davon aus, dass es sich um islamistische Täter handeln müsse.

 

Am vergangenen Mittwoch, den 27. November, tauchte Hamad Abdel-Samad wieder auf. »Ich bin von Kriminellen entführt worden«, vermutete dieser gegenüber SpiegelOnline selbst. Dieser Fall ist ein Musterbeispiel für die reflexartige, voreingenommene und kurzschlüssige Reaktion der internationalen Medien und Öffentlichkeit, aber auch ägyptischer Intellektueller und Aktivisten auf derartige Fälle – gewährt aber aus genau diesem Grund Einblicke in die Komplexität der gegenwärtigen Politik und Gesellschaft Ägyptens.

 

Auch die Islamisten lassen sich nicht über einen Kamm scheren

 

Natürlich hätten die Islamisten die Entführer sein können. Immerhin haben die radikalen Scheichs auf ihren eigenen Fernsehkanälen Todesfatwas gegen den streitbaren Autor Abdel-Samad und einige Mitglieder seiner Gruppe – die sogenannten »Säkularisten« – ausgesprochen. Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass Einzeltäter, religiöse Fanatiker, sich herausgefordert fühlten, diesen »Gotteslästerer« zu bestrafen und womöglich zu töten.

 

Vor gerade zwei Wochen ist die politische Aktivisten Esraa Mohamed in Kairo mit Säure übergossen worden. Sie trug schwerste Verätzungen im Gesicht davon. Bislang ist unklar, ob sexuelle Gewalt – wie die ägyptische Medien behaupten – die Triebfeder war, oder ob es sich um eine politisch motivierte Tat handelt. Esraa ist Mitgründerin einer säkularen Jugendgruppe beim Facebook, die für Religionsfreiheit plädiert.

 

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Täter einen islamischen Hintergrund haben, kann man die Islamisten nicht pauschal an den Pranger stellen. Denn viele Strömungen innerhalb der Salafisten und der Muslimbrüder distanzieren sich von Gewalt. Eine verteufelnde Pauschalisierung der Islamisten führt dazu, dass sich deren Millionen Anhänger als Terroristen oder Faschisten diffamiert fühlen. Das verstärkt in der Folge die virulenten Ängste in der Gesellschaft – und schließlich die Gewaltbereitschaft der einander misstrauisch gegenüberstehenden Bevölkerungsteile.

 

Hamed Abdel-Samad tritt mit seinen Aussagen vielen Ägyptern auf den Schlips

 

Zwar führen die meisten Ägypter die Notwendigkeit von Freiheit und Demokratie im Munde, meinen damit aber bloß die politische Freiheit, nicht die religiöse. Deswegen befindet sich die ägyptische Gesellschaft insgesamt in einem hochgradigen Erregungszustand, in dem Konflikte sehr schnell eskalieren. Vorträge und Reden, wie sie Hamed Abdel-Samad führt, schüren das Feuer nicht nur bei den Islamisten oder bei religiösen Institutionen wie der Al-Azhar, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft.

 

Fundierte kritische Theologie findet in Ägypten noch nicht statt. Publizistische Äußerungen gegen Gott, Muhammad und seine Gefährten werden sogar von säkularen Menschennrechtsaktivisten kritisiert. In Fernsehprogrammen, die meistens von Säkularen geführt sind, werden Atheisten mit unter auch mal als Geistkranke bezeichnet. Zahlreiche Aktivisten, Autoren und Studenten sind deswegen ins Gefängnis gesteckt worden, wurden ermordet oder ins Exil getrieben.

 

Auf der anderen Seite billigen viele Säkulare die Menschenrechtsverletzungen und gewaltsame Verfolgung der Islamisten, egal ob diese radikale oder moderate Gruppierungen gehören: Die ägyptische Gesellschaft ist alles andere als tolerant, sie trägt die Spuren der Diktatur immer noch in sich, auf beiden Seiten, ob islamistisch oder säkular. Jeder redet über Freiheit und Demokratie – meint aber dabei nur seine eigene.

 

Sollte Abdel-Samad am Ende von seinen Geschäftspartnern entführt worden sein, würde sich darin wiederum eine Art von Selbstjustiz widerspiegeln, die seit der Zeit Mubaraks weit verbreitet ist und neuerdings eine noch größere Gewaltdimension erreicht hat. Dass Schlägerbanden engagiert oder Polizisten bestochen werden, um den Gegner zu entführen, zu foltern oder einzuschüchtern, ist gang und gäbe, und eine Folge der Schwäche des allein an seinem Selbstschutz interessierten Staates. Die Bürger sind Selbstjustiz und Unrecht allzu oft hilflos ausgeliefert. Das jüngste Opfer dieses Systems heißt Hamed Abdel-Samad. 

 

Abdel-Samads Entführer könnten auch ganz anderen Gruppen entstammen

 

Schließlich könnten die Täter auch ganz anderen Gruppen entstammen – den finsteren Kreisen, den man mit dem Begriff »tiefer Staat« beschreiben könnte. Gemeint ist damit im weitesten Sinne ein Staat im Staate, über den auch die Machthaber häufig keine Kontrolle und keine Übersicht haben. Dazu gehören exklusive Gruppierungen innerhalb des Geheimdienstes, geheime Zellen, korrupte Gruppierungen von Geschäftsleuten, Polizei oder Armee, konterrevolutionäre Überbleibsel des alten Regimes.

 

Sie agieren selbstständig, sind an Entführungen und Morden beteiligt. Ihr Ziel ist es, in der Gesellschaft Angst zu verbreiten, damit die Bürger zu Gunsten ihrer Sicherheit bereitwillig einen Verlust an Freiheit in Kauf nehmen. Im Namen des Krieges gegen den islamischen Terrorismus werden im selben Atemzug Demonstrationsgesetze in Ägypten erlassen und Einschränkungen der Medienfreiheit praktiziert. Ebenso planen diese Elemente Attentate unter falscher Flagge und schieben sie den Islamisten, Jugendlichen oder Straßenkindern unter.

 

Aus der Erfahrung des Bürgerkrieges in Algerien oder aus den Konflikten in der Türkei ist bekannt, dass viele Entführungen, Bombenexplosionen, Morde oder Massaker von staatlichen beziehungsweise geheimen Zellen ausgeübt wurden und den Islamisten oder den Kurden zur Last gelegt wurden. Die Causa Abdel-Samad zeigt, dass ägyptische Intellektuelle und internationale Medien oft allzu schnell Islamisten als pauschale Tätergruppe heranziehen.

 

Dies führt nicht zur Integration gewaltfreier und moderater Islamisten, sondern zu ihrem Ausschluss. Außerdem wird so der Blick auf komplexe Ursachen des gesellschaftlichen Konflikts, etwa die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, verschlossen. So vertiefen sich die Gräben zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen – wie es auch jetzt nach der Freilassung von Hamed Abdel-Samad in Ägypten der Fall ist.


Hoda Salah arbeitet als freiberufliche Politikberaterin und pendelt seit der Revolution zwischen Berlin und Kairo. Zuvor war die deutsch-ägyptische Politikwissenschaftlerin wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients an der Freien Universität Berlin. Zu Ihrer Schwerpunkten gehören Islamismus, Transformationsprozesse und Frauenrechte.

Von: 
Hoda Salah

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.