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Verfassungsgebende Versammlung in Ägypten

Licht am Ende des Tunnels

Feature

Der zweite Anlauf zur Besetzung der verfassungsgebenden Versammlung ist geglückt. Doch die Stichwahlen um die Präsidentschaft werfen bereits ihre Schatten voraus. Gespannt wartet Ägypten auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes.

Der Übergang zur Demokratie in Ägypten ist in den letzten Wochen stark ins Stocken geraten. Die so genannten ersten freien Präsidentschaftswahlen brachten eher einen Rück- als einen Fortschritt. Zunächst wurde ein Kandidat des alten Regimes zugelassen, obwohl das gesetzlich eigentlich verboten worden war. Dieser kam auch noch in die Stichwahl, dank hunderttausenden von gefälschten Ausweisen, mit denen Polizisten und Soldaten, die nicht das Recht haben zu wählen, illegalerweise doch abstimmen konnten.

 

Beschwerden über Wahlfälschungen wurden abgewiesen. Zudem tritt dieser Vertreter des alten Regimes auch noch gegen eine ähnlich kontroverse und für viele unwählbare Person an – den Muslimbruder Muhammad Mursi. Dieser glänzt auch nicht gerade mit Transparenz und demokratischer Gesinnung. Er suchte zwar den Schulterschluss mit allen politischen Parteien, weigerte sich aber, eine Verpflichtungserklärung, die einfache Bekenntnisse zu demokratischen Prinzipien enthält, zu unterschreiben.

 

Die Skepsis Mursi gegenüber wächst, viele Wähler wollen sich der Stimme enthalten. »Ich werde Hamdeen Sabbahi auf den Wahlzettel schreiben, ich möchte nicht zum Sieg Mursis beitragen, das gibt ihm dann die Legitimität, Dinge zu tun, die ich nicht will. Wenn der neue Präsident nur mit 10 Prozent der Stimmen gewählt wird, dann hat er eben auch keine Legitimität, dann ist er so schwach, dass wir ihn leicht stürzen können, wenn er seine Macht missbraucht«, so ein junger Aktivist.

 

Für viele sind die Wahlen gelaufen, weiteres Engagement und weitere Hoffnungen sind nutzlos. So sagte etwa der Friedensnobelpreisträger Mohamed El Baradei, die Wahlen seien bedauerlicherweise nicht so gelaufen wie man sich das vorgestellt hätte, die eigentliche Auseinandersetzung würde woanders ausgetragen: die Verfassung. Die Verfassung müsse demokratische Prinzipien unveränderbar festschreiben – unabhängig davon, wer der neue Präsident wird.

 

Seine Partei »Die Verfassung« befindet sich in der Gründungsphase und soll alle revolutionären Gruppen und politische Kräfte, die sich den Zielen der Revolution und der Demokratie  verpflichtet sehen, vereinen. Viele hoffen nach den Wahlen auf diese neue Partei, die ein Gegengewicht zum neuen Präsidenten und zu den Muslimbrüdern darstellen soll.

 

Fester Sitzproporz soll Alleingänge verhindern

 

Am Donnerstagabend einigten sich alle wichtigen politischen Kräfte nun auf einen wichtigen Schritt ins Richtung neue Verfassung: die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung. Im März war die erste Versammlung von Liberalen und Säkularen boykottiert worden, da Muslimbrüder und Salafisten die absolute Mehrheit mit ihren Mitgliedern besetzt hatten. Daraufhin hatte ein Gericht diese Versammlung für nicht legitim erklärt. Nun also der zweite Versuch, der deutlich positiver ausfällt.

 

Die Einigung ist in jedem Fall ein Sieg für liberale und säkulare Kräfte, denn ohne sie kann in der neuen Versammlung nichts entschieden werden. Und so sieht die Sitzverteilung in der 100-köpfigen Versammlung konkret aus: 39 Sitze für Parlamentarier (davon 16 für die Muslimbrüder, 7 für die Salafisten, den Rest aufgeteilt unter liberalen, sozialdemokratischen und moderat islamischen Parteien), 10 Sitze für Verfassungsrechtler, 21 für Personen des öffentlichen Lebens, 10 Sitze für Revolutionäre und Jugendliche, 6 Sitze für Gewerkschaften, 5 für die islamische Lehranstalt Al-Azhar, 4 für die koptische Kirche, Polizei und Militär bekommen jeweils einen Sitz.

 

Und noch eine Regel gibt es bei der Sitzverteilung: insgesamt soll das Verhältnis von Personen mit islamischem Hintergrund und Personen mit säkularem Hintergrund 50 zu 50 sein – ein wichtiger Zusatz zu Gunsten der säkularen Kräfte.

 

Über Schafiks Kandidatur wird drei Tage vor der Stichwahl entschieden

 

Wichtig ist auch der Entscheidungsmodus der Versammlung. Alle Beschlüsse werden mit 2/3-Mehrheit gefällt, sollte dies keine Einigung bringen, können in einer zweiten Abstimmung auch Entscheidungen mit 57 Prozent der Stimmen beschlossen werden. Islamische und säkulare Kräfte müssen sich also einigen, ein Alleingang einer der beiden Gruppen ist nicht möglich. Natürlich bleibt abzuwarten, wer genau nominiert wird. Unter »Personen des öffentlichen Lebens« kann schließlich viel verstanden und missverstanden werden.

 

Dies soll am Dienstag entschieden werden, also noch vor der Stichwahl. Und noch etwas wird sich vor der Stichwahl entscheiden: Ob Ahmed Schafiks Kandidatur tatsächlich legal ist oder nicht. Der Oberste Gerichtshof will am 14. Juni, also nur 3 Tage vor der Stichwahl darüber entscheiden, ob Schafik antreten darf oder nicht. Sollte das Gericht Mubaraks letzten Premier als legalen Kandidaten erklären, darf man wieder große Demonstrationen erwarten. Sollte das Gericht Schafiks Kandidatur kippen, müssten wohl die kompletten Wahlen wiederholt werden. Ein sicherlich mehr politisches als rechtliches Urteil, das eventuell die Geschichte der Wahlen noch einmal ganz neu aufrollt.

Von: 
Victoria Tiemeier

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