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Tunesiens Regierungspartei in der Kritik

Ennahda fürchtet den Machtverlust

Analyse

Wirtschaftlicher Stillstand, unaufgeklärte Morde und Repressalien gegen Journalisten: Tunesiens Regierungspartei wird von immer mehr Bürgern für die schlechte Lage verantwortlich gemacht – und muss sich nun auf die Opposition zubewegen.

Die politische Krise in Tunesien dauert an. Seit der Ermordung des linken Politikers und Kritikers der islamischen Partei Ennahda, Mohamed Brahmi, ist die Arbeit an der Verfassung ausgesetzt. Ennahda, die bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung noch als stärkste Partei hervorgegangen war, hat ihren Nimbus schon lange verloren. Viel hatten sich ihre Wähler von ihr versprochen, doch Erfolge kann sie nicht verbuchen, und jeder weitere politische Mord erhöht den Druck auf die in den Umfragen taumelnde Partei.

 

Zahlreiche Demonstrationen, wie zuletzt der Generalstreik der Journalisten am 17. September in Reaktion auf die aggressive Haltung der Sicherheitskräfte gegenüber Reportern, drücken die wachsende Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit der Regierung aus. Oppositionspolitiker fordern deren Rücktritt, doch noch hat das Land kein neues Wahlgesetz und keine Wahlkommission, weshalb bisher keine Vorbereitungen für Neuwahlen getroffen werden.

 

Dabei sollte eigentlich innerhalb einen Jahres eine Verfassung verabschiedet und ein erstes reguläres Parlament gewählt worden sein. Obwohl dieser Zeitplan von vornherein sehr ambitioniert war, vor allem aber der wirtschaftliche Aufschwung auf sich warten lässt, formt sich in der Bevölkerung der Eindruck des Stillstandes. In einer vom amerikanischen »Pew Research Center« im März durchgeführten, aber erst am 12. September 2013 publizierten repräsentativen Umfrage, zeigen sich die Befragten von der Revolution enttäuscht.

 

52 Prozent geben an, dass es Tunesien schlechter ginge als zu Zeiten Ben Alis, das sind zehn Prozent mehr als im Vorjahr. 33 Prozent meinten, die Lage sei besser als vor 2011. Auch mit dem politischen Führungspersonal ist die Mehrheit unzufrieden.

 

Die Tunesier sind die taktischen Spielchen der Parteien leid

 

Nicht einmal die Hälfte der Befragten (44 Prozent) sieht den Präsidenten der Übergangsregierung, Moncef Marzouki, positiv. Den Präsidenten der verfassungsgebenden Versammlung der sozialdemokratischen Partei Ettakol, Mustapha Ben Jaafar, sogar nur 37 Prozent. Rached Ghannouchi, den in der Umfrage im Vorjahr noch zwei Drittel der Befragten guthießen, erhält nur noch 34 Prozent. Ähnlich geht es den politischen Parteien im Lande. Zwar ist Ennahda noch immer die beliebteste Partei, sie wird aber nur noch von einem Viertel der Befragten positiv bewertet.

 

Die Umfrage zeigt auch, dass das Ausbleiben der wirtschaftlichen Erholung das demokratische Experiment entzaubert. Die Tunesier sind die taktischen Spielchen der Parteien leid. Wenn die Befragten zwischen einer guten Demokratie und einer starken Wirtschaft wählen müssen, entscheiden sich 65 Prozent für letzteres. Eine stabile, nicht völlig demokratische Regierung wird einer instabilen, aber demokratischen Regierung vorgezogen, so die Umfrageergebnisse im März 2013.

 

Doch seit der Erhebung hat sich im Land viel verändert – mit Mohamed Brahmi wurde im Juli dieses Jahres der dritte prominente Politiker ermordet. Seitdem erhöhen die Oppositionsparteien den Druck – mit zahlreichen Demonstrationen und dem Aufruf, die Regierung und den verfassungsgebenden Konvent aufzulösen. Sie beschuldigen Ennahda, indirekt für das Attentat verantwortlich zu sein, da sie die radikalen Islamisten im Land ungestraft gewähren lasse.

 

In der Tat war es für die islamische Partei lange Teil ihrer Strategie, die radikaleren Elemente nicht zu behelligen. Sie fuhr lange Zeit zweigleisig. Zum einen wollte sie die Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugen, dass das islamische Projekt Ennahdas mit demokratischen Grundsätzen und einer pluralistischen Gesellschaft vereinbar sei. Das Eingehen in eine Koalitionsregierung mit zwei säkularen Parteien, der CPR Marzoukis und Ettakatol, ist ein Ausdruck dieser Bemühungen.

 

Ennahda hat zu lange ein Auge zugedrückt

 

Auf der anderen Seite galt es aber, die konservativeren Kreise nicht gegen sich aufzubringen. Obwohl Salafisten in Tunesien eine extreme Minderheit darstellen, sind sie in den letzten Jahren sichtbarer geworden. Ihr oft gewaltsamer Protest, zum Beispiel gegen den Sender Nessma TV wegen der Ausstrahlung des Films Persepolis, gegen eine Kunstausstellung im noblen Vorort La Marsa oder landesweit gegen Alkoholhändler, wurden von Ennahda nur halbherzig verurteilt.

 

Um sich im islamistischen Milieu als einzige islamische politische Partei zu etablieren, drückte sie bei Gewalttaten durch Salafisten ein Auge zu. Nach dem Mord an Chokri Belaïd im Februar 2013 schien Ennahda noch von einem Einzelfall auszugehen, der keine radikale Kursänderung nach sich zog. Doch seit dem Attentat auf Mohamed Brahmi und den grausigen Bildern der Attacke auf einen Militärkonvoi am Jebel Chaambi nahe der algerischen Grenze hat sich die innenpolitische Lage zugespitzt. In dem von radikalen Islamisten verminten Gebiet fanden acht Soldaten den Tod in einem Hinterhalt.

 

Beide Ereignisse fielen innerhalb weniger Tage im Juli diesen Jahres zusammen, in dem auch zwei Bomben detonierten, eine davon am Tag des Begräbnisses Mohamed Brahmis. Obwohl diese Sprengsätze keine Opfer forderten, erzeugten sie ein Klima der Angst. Noch immer wurden die Urheber der Anschläge auf Brahmi und Belaïd nicht eindeutig identifiziert, geschweige denn verurteilt. Die Oppositionsparteien beschuldigen Ennahda, die politische Gewalt durch radikale Islamisten zu dulden. Die 65 Abgeordneten, die im Juli die verfassungsgebende Versammlung verlassen haben, protestieren noch immer vor dem Gebäude und weigern sich zurückzukehren.

 

Zwar kündigte der Präsident des Konvents, Ennahdas Ben Jaafar, an, die Plenarsitzungen fänden ab nächster Woche wieder statt. Allerdings würden die Diskussionen um die Verfassung erst wieder aufgenommen, wenn alle gewählten Volksvertreter ihre Arbeit wieder aufnähmen. Widersprüchliche Signale, die von den betroffenen Abgeordneten ungläubig aufgenommen wurden.

 

Führt der »Fahrplan« des Gewerkschaftsbundes zum erhofften Durchbruch?

 

Gefangen in dem Dilemma, die Bevölkerung von ihrer eigenen Unschuld und dazu auch von ihrer Fähigkeit, die Gesellschaft vor Anschlägen beschützen zu können, zu überzeugen, tritt Ennahda nun die Flucht nach vorn an. Getrieben von der Befürchtung, bei Neuwahlen die Macht an die Oppositionsparteien zu verlieren, macht Ennahda seit Ende August Ansar al-Scharia, die wichtigste salafistische Gruppierung des Landes, für die Morde an Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi verantwortlich.

 

Ob diese späte Distanzierung von der salafistischen Bewegung den Mainstream der tunesischen Wählerschaft von Ennahda überzeugen kann, ist fraglich. Noch dazu besteht die Gefahr, dass die Kriminalisierung Ansar al-Scharias zu einer weiteren Radikalisierung führt, insbesondere da die Schuld der Bewegung juristisch noch nicht festgestellt wurde. Die tunesische Gesellschaft scheint ob der andauernden Krise unschlüssig. In einer weiteren Umfrage des Instituts 3C Etudes, die Ende August durchgeführt wurde, erklären 43 Prozent der Befragten, bei einer Neuwahl unentschlossen zu sein.

 

Rund 34 Prozent favorisieren das Oppositionsbündnis Nidaa Tounes und 31 Prozent würden Ennahda wählen. Während sich die Opposition obenauf wähnt, wird deren Hauptforderung, die verfassungsgebende Versammlung aufzulösen, nicht von der Mehrheit der Befragten geteilt – 48 Prozent sind dagegen. Unterdessen hat Tunesiens größter Gewerkschaftsbund, UGTT, einen »Fahrplan« vorgestellt, um die politische Krise zu überwinden.

 

Er sieht vor, dass führende Politiker des Landes einschließlich des Präsidenten, des Premierministers, des Sprechers der verfassungsgebenden Versammlung und deren Mitglieder sowie die Vertreter der politischen Parteien zu einem nationalen Dialog zusammenkommen. Außerdem soll die Regierung drei Wochen nach Beginn der Gespräche zurücktreten, um einer neuen, von der Versammlung gebilligten Regierung Platz zu machen.

 

Der erste Verfassungsentwurf soll innerhalb eines Monats fertiggestellt werden. Führende Vertreter der Regierungsparteien haben vorsichtig ihre Unterstützung für einen nationalen Dialog ausgesprochen, wobei die konkreten Details nicht alle überzeugen. Den Parteien scheint klar zu sein, dass sich die Situation ändern muss, aber die Furcht vorm Machtverlust überwiegt derzeit noch.

Von: 
Johanne Kübler

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