Lesezeit: 9 Minuten
Theaterstück »Taksim Forever«

Park der Träume

Feature

Die Neuköllner Oper bringt mit »Taksim Forever« ein Musical über die türkischen Proteste gegen den Abriss des Gezi-Parks auf die Bühne – eine Gratwanderung, die gelingt, weil das Ensemble die Lebenswelten seiner Protagonisten fühlbar macht.

»HER YER TAKSİM, HER YER DIRENIŞ! – Taksim ist überall, überall ist Widerstand« – kaum betritt Pinar Erincin als Leyla die Bühne und beginnt, die Schlachtrufe der Gezi-Park-Proteste von 2013 zu skandieren, wird der Zuschauer direkt aus der Neuköllner Oper in die Zeltstadt der Protestierenden am Istanbuler Taksim-Platz entführt. Die 29-jährige Deutsch-Türkin hat die Demonstrationen im vergangenen Jahr selbst miterlebt und schafft es, ihre Leidenschaft für die Ziele der Bewegung in das knapp zweistündige Musical »Taksim Forever - #Rüyalar Parkı« von Can Erdoğan-Sus und Kerem Can zu transportieren.

 

Die Macher des Stücks haben sich viel vorgenommen: Die Hintergründe der Massenproteste in der Türkei, die im Gezi-Park ihren Ausgang nahmen, sind komplex, genau wie die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft. Ein Musikstück indes soll unterhalten, Emotionen transportieren und muss die großen Konflikte im Kleinen personalisieren. Genau diese Gratwanderung gelingt dem Ensemble in der Neuköllner Oper. Nur zu fünft sind die Schauspieler, teilweise schlüpfen sie in mehrere Rollen.

 

Die dargestellte Geschichte ist simpel: Leyla ist Dozentin an einer Istanbuler Universität, wie viele andere junge Menschen fühlt sie sich abgestoßen von der Politik Erdogans, »dieser Regierung, die uns nicht atmen lässt « und dem sichtbaren Wandel des Stadtbilds von Istanbul durch die aggressive Gentrifizierungspolitik, im Zuge derer ganze Stadtviertel abgerissen werden. Also schließt sie sich den Protestierenden am Taksim Platz an – eine Entscheidung, die bei ihrer lethargischen Mutter auf Unverständnis stößt. Diese liegt lieber träge auf dem Bett und lässt sich von den regierungskonformen Fernsehsendern berieseln.

 

Die Antagonisten sind der Berliner Ben und sein Vater: Während der Vater, ein alternder Revolutionär, seiner bewegten Protestvergangenheit nachhängt, ist Ben ein scheinbar in sich selbst gefangener, erfolgloser Tonkünstler. Ben hört Leylas Stimme bei den Protesten im Radio und reist, fasziniert von ihrer Ausdrucksstärke, nach Istanbul, um die Person hinter der Stimme kennenzulernen. Was Ben an Persönlichkeit mangelt, hat Deniz an Überfluss.

 

Er ist der DJ des Piratensenders »Radyo Capulcu« im Gezi-Park. Deniz beschreibt sich als »homosexuellen, bisexuellen, transsexuellen, heterosexuellen alevitischen« Kurden, der »jüdischer, christlicher, muslimischer, buddhistischer Atheist« sei, und umreißt so die Diversität der protestierenden Türken im Gezi-Park und überall in der Türkei. Mit seiner fröhlich-naiven Art unterstreicht Deniz‘ Charakter die friedlichen Intentionen der Demonstranten und ihre Hilflosigkeit gegenüber der Polizeigewalt, die ihnen ungebremst entgegenschlägt.

 

Als Leyla in wachsender Verzweiflung zu gewalttätigen Mitteln greifen will, ist er es, der sie daran erinnert, dass sie eine Bewegung von Träumern sind. »Dies ist der Park der Träume, wünsch dir etwas«, sagt er denn auch zu Leylas Mutter, die sich unbefriedigt von der mangelnden Berichterstattung der türkischen Sender zu den Protesten, letzten Endes selbst auf die Suche nach ihrer Tochter am Taksim-Platz gemacht hat.

 

Wer Istanbul kennt, spürt den Schmerz über den Wandel der Stadt

 

Das karge Bühnenbild wird atmosphärisch verdichtet mit Videosequenzen, bedrohlicher musikalischer Untermalung und viel Trockeneis – Symbol für den übermäßigen Einsatz von Tränengas der türkischen Polizei gegen die Demonstranten. Auch weil die Dialoge teils sehr einfach und etwas unzusammenhängend wirken, sind es die Lieder, die dem Zuschauer helfen, ein Bild von den Protesten und Protestierenden zu bekommen, zu fühlen, was sie fühlen.

 

Die Schlichtheit der Handlung vermag es nicht, die Dramatik der größten türkischen Protestbewegung der vergangenen Jahrzehnte und ihrer brutalen Zerschlagung durch staatliche Kräfte zu schmälern. Vor allem wer Istanbul kennt, spürt den Schmerz über den Wandel der Stadt und versteht, weshalb Menschen aller Schichten der türkischen Gesellschaft mit einem Mal an einem Strang zogen, um den Gezi-Park zu retten, und was das mit größeren Idealen wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit gemeinsam hat. Wer sich den Gezi-Protesten auf unterhaltsame Weise nähern will, sollte sich »Taksim Forever – #Rüyalar Parkı« auf jeden Fall anschauen.

 

Taksim Forever - #Rüyalar Parkı

Regie: Nicole Oder

Weitere Aufführungen: 10.09. bis 21. September im Saal der Neuköllner Oper

Tickets: von 13 bis 24 Euro (ermäßigt 9 Euro) Neukölln

www.neukoellneroper.de

Von: 
Laura Ginzel

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