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Terrorismus und Olympia in Russland

Speznaz, Spiele und Korruption

Analyse
von Max Brandt

Wenige Wochen vor dem Beginn der Olympischen Winterspiele erschütterten zwei Selbstmordattentate die Millionenstadt Wolgograd. Der Konflikt im Nordkaukasus hängt wie ein Schatten über der Großveranstaltung in Sotschi.

Das Erbe der Sowjetunion ist nirgendwo blutiger: Mit dem Ende der UdSSR eskalierten die historischen Autonomiebestrebungen der Völker des Kaukasus und interethnische Gewalt in der Region in eine Reihe bewaffneter Konflikte. Vor allem die beiden Kriege in Tschetschenien erlangten dabei ob ihrer gewaltigen Zerstörungen und der vielen Todesopfer weltweite Aufmerksamkeit Der tschetschenische Widerstand war zunächst in erster Linie ethnisch-nationalistisch motiviert.

 

Vereinfacht betrachtet ging es um die Abspaltung Tschetscheniens von Russland und seine Etablierung als unabhängiger Staat, was von 1994 bis 1996 zum ersten Krieg führte. Der Islam als im Nordkaukasus verbreitetste Religion war dabei nur eines von vielen identitätsstiftenden Merkmalen in Abgrenzung zu Russland. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde sie jedoch zunehmend als zentrales Instrument der Abgrenzung und Mobilisierung im tschetschenischen Widerstand etabliert und verankert.

 

Vor allem ausländische Mudschaheddin und tschetschenische Kämpfer – die ihrerseits wiederum im Ausland durch islamistische Gruppierungen ausgebildet worden waren – trugen da zu bei, den separatistischen Regionalkonflikt in einen Kampf zu verwandeln, der über die Grenzen Tschetscheniens hinaus wirken sollte. Dies beinhaltete auch den Einbezug neuer Taktiken. So wurde fortan zunehmend auf die Verbreitung von Terror im russischen Kernland gesetzt.

 

In Folge einer Serie von Terroranschlagen und Angriffen auf Gemeinden in der Nordkaukasusrepublik Dagestan kam es mit dem »Zweiten Tschetschenienkrieg« ab 1999 zur zweiten großen militärischen Intervention Russlands. Dieser dauerte offiziell bis 2009, doch wirklicher Frieden ist in die umkämpfte Region bis heute nicht eingekehrt. In diese Zeit des Zweiten Tschetschenienkriegs fielen auch einige der medienträchtigsten Anschläge kaukasischer Terroristen und ihrer Helfer aus dem Ausland.

 

Vor allem die Zerstörung mehrerer Apartmenthäuser in Moskau und Wladikawkas im Jahr 1999 sowie die Geiselnahmen im Moskauer »Nordost-Theater« und in einer Schule im nordkaukasischen Beslan 2002 und 2004 stachen dabei als besonders brutale Terrorakte hervor. Russland vollzog in diesem Zusammenhang einen paradigmatischen Wechsel seiner Sicherheitspolitik. Der neu ins Amt gekommene Präsident Wladimir Putin führte die Operationen im Nordkaukasus explizit als einen Anti-Terror-Kampf, wodurch das militärische Vorgehen in Tschetschenien angesichts des westlichen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels nach dem 11. September international in ein anderes Licht gerückt wurde.

 

Ganz anders als der Erste Tschetschenienkrieg Mitte der 1990er Jahre hielt sich die internationale Kritik nunmehr in Grenzen. Vor allem durch die von den USA betriebene Internationalisierung der Terrorismusbekämpfung fanden sich nunmehr Anknüpfungspunkte zwischen den Strategien Moskaus und denen westlicher Staaten. Die spektakulären Anschläge in Russland fielen zudem in die Zeit, als auch Europa in Madrid und London durch ähnliche Angriffe heimgesucht wurden.

 

Auch angesichts der jüngsten Anschläge von Wolgograd ließ die US-Regierung über eine Sprecherin »vollständige und umfassende Unterstützung« anbieten. Andersherum hatten die Präsidenten Barack Obama und Wladimir Putin bereits nach dem Anschlag in Boston eine bessere Zusammenarbeit gegen Terrorismus vereinbart: »Wenn wir unsere Kräfte vereinen, werden wir solche Anschläge nicht zulassen und keine derartigen Verluste mehr erleiden müssen«, hoffte der russische Präsident noch im April 2013.

 

Der Kampf um Unabhängigkeit ist zum Kampf gegen die »Ungläubigen« geworden

 

Auch auf Seiten der kaukasischen Separatisten wurde der Anschluss an die globalen Frontverläufe des »Krieges gegen den Terror« noch deutlicher sichtbar. So wandelte sich der Widerstand gegen den russischen Zentralstaat in seiner Rhetorik von einem Kampf um Unabhängigkeit endgültig zu einem gegen »die Ungläubigen«. Exemplarisch für den ideologischen Formwandel war die Ausrufung des »Kaukasischen Emirats«, mit dem der Führer des islamistischen Widerstands, der selbsternannte »Emir« Dokku Umarow, 2007 die neue Strategie eines pan-kaukasischen Islamismus und damit auch die Ausweitung des Kampfes auf die Nachbarrepubliken Tschetscheniens propagierte.

 

Der 2004 getötete Präsident Achmat Kadyrow und sein heute regierender Sohn Ramsan haben mit einer Mischung aus Repression und monetärer Begünstigung in Tschetschenien relative Ruhe geschaffen. Bei beiden handelt es sich um ehemalige Rebellen, welche sich im Verlauf der Konflikte auf die Seite des russischen Staates geschlagen haben. Ramsan Kadyrow steht heute wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen seiner Sicherheitskräfte und der undurchsichtigen Wirtschaftsaktivitäten seiner Gefolgsleute international in der Kritik, genießt aber weiterhin die Gunst des Kreml.

 

Eine echte Lösung der Probleme bietet seine harte Hand aber nicht. Der islamistische Untergrund hat seine Operationen vielmehr auf die gesamte Region des Nordkaukasus ausgeweitet. So finden die Mehrzahl der immer noch zahlreichen Anschläge und Feuergefechte bis heute in der Teilrepublik Dagestan am Kaspischen Meer sowie in Inguschetien und Kabardino-Balkarien statt. Insgesamt kamen im Nordkaukasus allein im Jahr 2012 nach Einschätzung der International Crisis Group 1.225 Menschen durch die Gewalt zu Tode.

 

Die unzugänglichen Berg- und Waldregionen dienen dabei als idealer Rückzugsraum für die islamistischen Kämpfer, welche mit ihren gewalttätigen Aktionen vor allem auf russische Sicherheitskräfte und Staatsbedienstete, aber auch auf gemäßigte Muslime, Journalisten und zivilgesellschaftliche Aktivisten zielen. Anschläge, wie etwa auf Fernzüge zwischen Moskau und St. Petersburg im Jahr 2009, auf die Moskauer U-Bahn 2010 und ein Jahr später auf den Moskauer Flughafen Domodedovo bezeugen zudem, dass die terroristischen Gruppierungen nach wie vor in der Lage sind, im russischen Kernland zu operieren.

 

Das zeigt sich nun auch in Wolgograd, das selbst nicht im Kaukasus liegt. Bereits vor dem jüngsten Doppelanschlag hatte sich in Wladiwostok im Oktober eine Selbstmordattentäterin in einem Kleinbus in die Luft gesprengt und sechs Menschen mit in den Tod gerissen.

 

Nicht das Militär, sondern Einheiten des Innenministeriums und des Geheimdienstes führen heute die meisten Antiterror-Operationen durch

 

Der Kampf der kaukasischen Islamisten war und ist primär gegen Russland gerichtet. International treten islamistische Kämpfer aus dem Kaukasus zwar – wie etwa in Syrien – in selbsterklärten heiligen Kriegen auf. Anschläge in Europa und den USA wären aber für ihre Gesamtstrategie kontraproduktiv. Insofern ist es, auch wenn die juristische Aufarbeitung der Bostoner Anschläge abzuwarten bleibt, unwahrscheinlich, dass die Täter Tamerlan und Dzokhar Tsarnaev im Auftrag einer Terrororganisation aus dem Nordkaukasus gehandelt haben.

 

Das bedeutet aber keineswegs, dass eine Radikalisierung im Umfeld der sich ausbreitenden islamistischen Kreise in Dagestan, wo sich der ältere der beiden Attentäter vor den Anschlägen für mehrere Monate aufhielt, nicht stattgefunden haben kann. Von russischer Seite werden die meisten Operationen gegen Terroristen heute nicht mehr vom Militär, sondern von Einheiten des Innenministeriums und des Geheimdienstes durchgeführt. Diese sind zwar nicht weniger schwer bewaffnet, nur soll so der Eindruck eines Krieges vermieden werden.

 

Dazu kommen sicherheitspolitische Maßnahmen wie etwa die Aufrüstung lokaler Kosakenmilizen. Diese werden schon seit den Zeiten der Zaren zum Schutz der russischen Interessen im Kaukasus eingesetzt. Insgesamt ist der sicherheitspolitische Aufwand für Russland im Nordkaukasus gewaltig, und die Verluste sind hoch. Trotz dieser Lage wäre es vorschnell, die russische Politik im Nordkaukasus allein als repressiv und kontraproduktiv einzustufen.

 

So verfolgt der Kreml seit einigen Jahren einen Ansatz, der auf regionale wirtschaftliche Entwicklung setzt und viele der Republiken im Nordkaukasus – allen voran Tschetschenien – haben durch zahlreiche Verwaltungs- und Finanzreformen heute mehr Unabhängigkeit als Anfang der 1990er Jahre jemals anzunehmen gewesen wäre. Auch der Tourismus soll in der landschaftlich attraktiven Region helfen, die Spirale aus Armut und Gewalt zu durchbrechen, wie insbesondere in der Entscheidung, die olympischen Winterspiele 2014 im unweit der Krisenregion gelegenen Sotschi auszutragen, deutlich wird.

 

Zudem profitieren einige Teilrepubliken von Rohstoffvorkommen und so lassen sich auch einige sichtbare Zeichen von wirtschaftlichem Aufschwung und Wiederaufbau im Nordkaukasus ausmachen. Als beispielhaft dafür steht unter anderem die tschetschenische Hauptstadt Grosny, die nach ihrer fast völligen Zerstörung heute durchaus auflebt.

 

Moskau versucht, dem Nordkaukasus eine Perspektive zu verschaffen

 

Die schlechte Sicherheitslage und ein weit gestricktes Netzwerk aus Korruption, die zu einem wesentlichen Teil von den Geldern des russischen Zentralstaats lebt, blockieren aber eine umfassende und nachhaltige Entwicklung des Nordkaukasus. Das grundlegende Problem liegt in der russischen Strategie, den Konflikt durch die Übertragung der Verantwortung an lokale Machtpersonen mit zweifelhaftem Ruf zu entmilitarisieren.

 

Deren Loyalität zu Moskau aber basiert fast ausschließlich auf erheblichen finanziellen Zuwendungen und dem Versprechen der russischen Behörden, angesichts massiver Verstrickungen in Strukturen organisierter Kriminalität beide Augen zuzudrücken. Ein wirksames Aufbrechen dieses Bereicherungssystems jedoch würde wiederum die relative Stabilität gefährden. Nachhaltige Entwicklungsfortschritte bleiben deshalb bislang weitgehend aus und insbesondere die hohe regionale Arbeitslosigkeit bildet einen Nährboden für neue Radikalisierung.

 

Um dem zu begegnen und den islamistischen Militanten den ideologischen Nährboden zu entziehen, hat die russische Regierung Initiativen in Medien gestartet und in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden Programme zur De-Radikalisierung und zum interkulturellen Dialog entwickelt. Der langfristige Erfolg solcher Maßnahmen bleibt dabei abzuwarten, in jedem Fall aber wird seitens Moskau versucht dem Nordkaukasus eine Perspektive zu schaffen. In der Region haben die Terroranschläge auf Zivilisten die ursprünglich fast wohlwollende Haltung der internationalen Öffentlichkeit gegenüber dem tschetschenischen Freiheitskampf der 1990er Jahre endgültig zerstört.

 

Lange hatte auch der russische Präsident von einer »Doppelmoral« der westlichen Staaten in Bezug auf den Terror aus dem Nordkaukasus gesprochen. Anders als etwa bei Anschlägen in Europa, wird dabei von Kommentatoren jedoch bis heute zumindest eine Teilschuld in einer repressiven Politik Russlands gegenüber dem Nordkaukasus gesehen. Im Großen und Ganzen ist aber das Feld der Terrorbekämpfung eines der eher unproblematischen zwischen Russland und dem Westen, und es bietet daher auch Möglichkeiten einer tieferen Kooperation.

 

Der Fokus richtet sich nun vor allem auf die Winterspiele in Sotschi 2014. Ein Anschlag dort würde nicht nur Moskaus Ruf in der Welt diskreditieren, sondern auch die Versuche, die Region wirtschaftlich zu entwickeln, zurückwerfen. Der islamistische Widerstand weiß natürlich um die Bedeutung der Spiele. Ein einjähriges Moratorium, in dem Islamistenführer Umarow dazu aufrief, keine Gewalt gegen Zivilisten mehr zu verüben, revidierte er auf Youtube.

 

Es ist wahrscheinlich, dass die Anschläge von Wolgograd damit zusammenhängen. Die russischen Sicherheitskräfte bieten im Vorfeld der Spiele alles auf, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Die Kosten der Sicherheitsvorkehrungen gehen über die aller vorherigen Spiele hinaus: Mehr als zwei Milliarden Euro und 60.000 Sicherheitskräfte will man aufbieten. So versicherte auch Alexander Schukow, Chef des Nationalen Olympischen Komitees von Russland, dass »alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen schon getroffen« seien.

 

»Alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen wurden schon getroffen«

 

Um den Terrorismus langfristig einzudämmen bieten die Anschläge von Boston und Wolgograd, sowie die Spiele auch eine Chance für Moskau, Kooperationen im Anti-Terror-Kampf wiederzubeleben. So haben amerikanische und russische Sicherheitsbehörden die Kooperation in Bezug auf islamistische Organisationen im Nordkaukasus verstärkt. Moskau sollte nun auch die Möglichkeit nutzen, von der Expertise der USA und der EU für die Sicherheitsgewährleistung großer Sportveranstaltungen zu profitieren.

 

Auch erwarten alle Staaten, deren Angehörige, ob als Sportler oder Besucher, nach Sotschi reisen, umfassend über die Sicherheitslage informiert zu sein. All das sollte im besten Fall der Grundstein für einen Politikwechsel sein, in dem Russland mehr internationales Engagement im Nordkaukasus zulässt. Bisher suchte man zwar durchaus eine Zusammenarbeit in der Terrorismusabwehr, verbat sich aber jegliche Einmischung in die politische Lage im Nordkaukasus. Angesichts der vielschichtigen Verflechtungen sozialer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Aspekten des Terrorismusproblems sollte diese Haltung überdacht werden.


Max Brandt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Übernahme aus der Ausgabe 4/2013 des ADLAS – Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik.

Von: 
Max Brandt

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