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Türkei und der Krieg in Syrien

Immer Ärger mit den Nachbarn

Analyse

Im Interessenwirrwarr des syrischen Bürgerkrieges versucht die türkische Regierung, Stärke zu zeigen, offenbart dabei aber Widersprüche in Gesellschaft und Partei – und verlässt den Pfad einer verlässlichen außenpolitischen Vision.

Vor wenigen Tagen erst sperrte Syrien den eigenen Luftraum für türkische Maschinen, kurz darauf zog die Türkei nach. Dies ist nur der vorläufige Höhepunkt einer schon länger schwelenden Krise. Den Anfang machte der Abschuss eines türkischen Flugzeugs in der Nähe der nordsyrischen Küstenstadt Latakia.

 

Türkische Medien titelten: »Syrien holt F4-Jet vom Himmel! Sind wir jetzt im Krieg?« Arbeitsminister Çelik erklärte, neben der diplomatischen könne sich die Türkei auch durchaus noch »andere Reaktionsformen« vorstellen. Erdoğan selbst stellte »angemessene Reaktionen« in Aussicht, betonte aber auch, dass es sich beim Überflug um ein Versehen gehandelt hätte.

 

Dennoch verabschiedete das türkische Parlament eine einjährige Generalvollmacht für militärische Handlungen der Regierung gegen Syrien, um im Notfall umgehend handlungsbereit zu sein. Eine ähnliche Vollmacht existiert bereits für den Nordirak – und wird von Jahr zu Jahr verlängert. Wegen der Blockadepolitik Russlands und Chinas im Weltsicherheitsrat stellte Erdoğan ihn kürzlich in seiner jetzigen Form in Frage und mahnte dringende Reformen an.

 

Als Beispiel für die Handlungsunfähigkeit führte der Regierungschef die Eskalation des Jugoslawienkriegs vor 20 Jahren an – auch hier konnte der Sicherheitsrat nicht zu einer Lösung finden. Der Genozid von mehr als 7.000 serbischen Muslimen ist für viele gläubige Türken noch immer ein Trauma. Sie werfen den damaligen Kabinetten von Süleyman Demirel und Tansu Çiller noch immer vor, nicht entschlossen genug gehandelt zu haben.

 

Das, so der einhellige Tenor der Straße, wird mit Erdoğan nie passieren. Ob in Bezug auf Palästina, Sudan, Somalia oder Myanmar, Erdoğan bezieht medienwirksam Stellung zugunsten der muslimischen Bevölkerung. In der vergangenen Woche wuchs die politische Anspannung erneut, als die Türkei ein aus Moskau kommendes syrisches Passierflugzeug zur Landung in Ankara zwang.

 

Selbst der deutsche Außenminister Westerwelle legte einen Extra-Stopp auf der Rückreise aus China ein, um dem Nato-Partner Unterstützung zu versichern und um ihn gleichzeitig zu besonnenem Handeln anzuhalten. Das Flugzeug, so der Vorwurf der AKP-Regierung, habe Rüstungsteile und Munition geladen. Diese seien verbotenerweise von Russland zur Unterstützung von Assads Truppen über türkisches Gebiet transportiert worden. Fotos oder nähere Beweise fehlen bislang, die Regierung kündigte aber an, den Fund in nächster Zeit von Nato-Experten untersuchen zu lassen.

 

»Warum präsentiert sich Erdoğan nicht wie ein stolzer Jäger auf allen Kanälen mit seiner Beute?«

 

Die unklare Situation nutzen sowohl Russland, Syrien und Teile der türkischen Opposition, um der Regierung vorzuwerfen: »Wenn wirklich etwas gefunden worden wäre, würde sich Erdoğan doch wie ein stolzer Jäger auf allen Kanälen mit seiner Beute präsentieren.« Wie in jedem modernen Krieg geht es auch in diesem Konflikt nicht nur um militärische Präsenz, sondern auch um die Kontrolle von Informationen und Deutungshoheit.

 

Währenddessen hält der gegenseitige Granatenbeschuss in den kleinen Orten und Dörfern entlang der knapp 700 Kilometer langen Grenze zum Leidwesen der Zivilbevölkerung weiter an. Aber der Konflikt greift längst über die Regierungsebene hinaus und wird zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der beiden Länder ausgetragen. So wirft die Türkei dem Assad-Regime vor, die kurdische Terrororganisation PKK mit Waffen zu beliefern.

 

Syrien hingegen vermutet, die Türkei würde syrische Rebellen über einen Stützpunkt in Adana militärisch unterstützen und ihnen Unterschlupf gewähren. Eine große Gruppe der Einwohner Hatays, einer multikonfessionellen Stadt im südöstlichsten Zipfel am Mittelmeer, unterstützen zudem insgeheim das bestehende syrische Regime. Sie sind, genau wie Baschar al-Assad und seine Familie, Alawiten, eine Glaubensgemeinschaft, die in der Türkei oft mit Diskriminierung zu kämpfen hat.

 

Die Opposition kritisiert zudem die Kurswechsel der AKP-Regierung gegenüber dem Assad-Regime. Waren Assad und Erdoğan bis Anfang 2011 noch enge politische Partner möchte davon heute niemand mehr etwas hören. Die Türkei lässt die Muskeln spielen und auch der sonst recht besonnen auftretende türkische Außenminister Davutoğlu verkündete: »Wir werden im Sinne einer Abschreckung handeln.«

 

Das hört sich plötzlich ganz anders an als seine »Null-Probleme«-Außenpolitik, die ihn 2009 vom Professor für Internationale Beziehungen und Diplomaten zum türkischen Außenminister katapultiert hatte.

 

Russische und türkische Interessen sind kaum in Einklang zu bringen

 

Neben Syrien liegt die Türkei nun auch mit Russland im Clinch. Präsident Putin galt der AKP einst als lupenreiner Demokrat und wichtiger Verbündeter. Dabei, so der Davutoğlu-Experte Christoph Ramm von der Uni Bern, stand die Partnerschaft mit Russland stets auf wackeligen Beinen – zu widerstrebend sind die Interessen der beiden Länder.

 

In den letzten zehn Jahren haben sowohl Moskau als auch Ankara die gemeinsamen Interessen, wie den Ausbau des Handels, die Deckung des türkischen Energiebedarfs und die Förderung des russischen Tourismus, betont. In Bezug auf die konkurrierende Energiepolitik und die Haltung in den Konfliktfeldern im Kaukasus – etwa in Georgien oder dem schwelenden Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan – sind die Interessen der beiden Länder aber kaum in Einklang zu bringen.

 

Mit der Syrienfrage, so Ramm, sei nun ein Gegensatz dazugekommen, dessen weitere Entwicklung schwer kalkulierbar ist. Der Konflikt hat für beide Länder aber auch eine innenpolitische Dimension. Syrien will, vielmehr muss, nach außen und innen abschreckende Härte zeigen – eine andere Überlebensoption hat das Assad-Regime wohl nicht mehr.

 

Auch Erdoğan lässt die Muskeln spielen – allerdings in der sicheren Gewissheit, dass die internationale Gemeinschaft alles tun wird, um einen Krieg zu vermeiden. Auch wenn der überwiegende Teil der türkischen Bevölkerung stolz ist, wie Erdoğan das Ansehen der Türkei verteidigt, lehnen viele einen weiteren Krieg neben dem ohnehin kaum beruhigten Kurdenkonflikt ab.

 

Doch Erdoğans Gebrüll zeigt Wirkung – seine Zustimmungsraten steigen wieder und erst im September diesen Jahres ist er ohne Gegenstimme erneut zum Parteivorsitzenden der AKP gewählt worden. Die türkische Opposition sieht es natürlich prinzipiell anders. Hatte sie in den vergangenen Jahren die neue Nähe der Türkei zu Syrien kritisiert, stößt sie sich nun am Konfrontationskurs mit Assad.

 

Dabei berufen sich die Kemalisten in der Opposition auf Atatürks Gebot zur Nichteinmischung in internationale Konflikte. Auf türkischen Facebook-Seiten machen Verschwörungstheorien die Runde: Die AKP sei lediglich eine Marionette der USA und Erdoğan würde seine Außenpolitik nach jedem Washingtonbesuch neu ausrichten. Andere argumentieren, die AKP sei von Israel gesteuert und führen an, dass die Regierungspartei Staatsbetriebe und Gebiete entlang der syrischen Grenze an Israel verschleudert hätte.

 

Noch nie ist die Türkei so deutlich von ihrer außenpolitischen Doktrin abgerückt

 

Dieser Topos ist nicht neu: Bereits vor sieben Jahren klagte das Buch »Musanin cocuklari – Die Kinder Moses« Recep Tayyip Erdoğan und seine Frau Emine an, »heimliche Juden« sein, die das Land ins Verderben führen würden. Trotz schwacher Beweise wurde das Buch des Autors Ergün Poyraz ein Bestseller und ging mehrere hunderttausend Mal über die Ladentheke.

 

Völlig entnervt schrieb der berühmte türkische Kommentator Mehmet Ali Birand daher kürzlich über Phantasie und Diskussionsfreude seiner Landsleute: »Dieses Land zu führen ist wirklich schwer. Besonders, weil jeder, ob er nun Ahnung hat oder nicht, sich selbst für einen Experten hält. Wollt ihr den PKK-Terror beenden? Syrien eine Lektion erteilen? Oder mit der Nationalmannschaft Gruppenerster werden? Die Lösung ist schon parat. Wissen musst du dafür nichts, ein Mikrofon reicht schon. Wir lösen hier alle Probleme auf einmal!«

 

Birands Befund wird auch Außenminister Davutoğlu beipflichten und sich in den letzten Tagen das ein oder andere Mal sehnlichst zurück auf seinen Professorensessel gewünscht haben. Der Konflikt hat die Diskrepanz zwischen seinem strategischen Ansatz der »Null-Probleme«-Politik mit allen Nachbarn und der rauen Wirklichkeit in der Region wieder einmal deutlich gemacht.

 

Im Falle Syriens, so Ramm, ist jetzt ein neuer Konflikt dazugekommen, der das regionale Kräfteverhältnis auf den Kopf stellt. Die Türkei hat darin klar Partei ergriffen und ist in diesem Fall so deutlich wie noch nie von ihrer außenpolitischen Doktrin abgerückt. Genau wie der Arabische Frühling wird auch der Ausgang des syrischen Bürgerkrieges die umliegenden Länder stark beeinflussen. Vom Verhalten der AKP-Regierung in den kommenden Tagen hängt ab, welche Rolle die Türkei zukünftig in dieser Region spielt.

Von: 
Charlotte Joppien

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