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Sexuelle Gewalt in Ägypten

»Kontrolliert euch selbst, nicht eure Frauen!«

Essay

Das Video einer grausamen Massenvergewaltigung löst wütende Proteste in Kairo aus. Die Zahl der Demonstranten hielt sich jedoch in Grenzen. Ist Ägypten bereit, das Thema sexuelle Gewalt endlich ehrlich aufzuarbeiten?

»Sagt mir nicht, was ich anziehen soll – sagt ihnen, dass sie nicht vergewaltigen sollen!« Einige hundert Demonstranten halten Plakate mit Slogans dieser Art am 14. Juni 2014 vor dem Opernhaus in Kairo in die Höhe. Frauen jeder Altersklasse, ob mit oder ohne Kopftuch und unabhängig von politischer und religiöser Gesinnung, äußern gemeinsam ihren Unmut gegen sexuelle Gewalt. Zwei Aktivistinnen tragen symbolische Handabdrücke aus Kunstblut auf Armen und Beinen.

 

Seit der Revolution 2011 häufen sich die sexuellen Übergriffe bei Versammlungen und Demonstrationen in Ägypten. Allein in den Tagen um den Sturz des ehemaligen Präsidenten Mohammad Mursi im vergangenen Jahr gab es nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen am Tahrir-Platz mehr als 90 Opfer sexueller Gewalt. Ein erneuter Vorfall, der in den vergangenen Wochen nicht nur in Ägypten für Empörung sorgte, zeigt die Brisanz des Themas.

 

Inmitten der Feierlichkeiten am 8. Juni 2014 zur Amtseinführung des neuen ägyptischen Präsidenten Abdelfatah El Sisi wurde eine Frau zusammen mit ihrer Tochter von mehreren Männern angegriffen: Sie zogen sie nackt aus und verletzten sie mit scharfen Gegenständen im Intimbereich. Die brutale Vergewaltigung wurde gefilmt. Auf Ansuchen der ägyptischen Regierung entfernte Youtube zumindest die Version in der das Gesicht der Frau zu erkennen war.

 

Als Reaktion auf die schockierende Videoaufnahme rief die Studentin Dina El Shabba von der American University in Cairo (AUC) die Facebook-Veranstaltung »Walk Like An Egyptian Woman!« ins Leben. Traum und Hoffnung der 20-Jährigen: der sexuellen Gewalt in Ägypten ein Ende zu setzen. Es schien, als hätte sie mit ihrer Aktion einen Stein ins Rollen gebracht. Innerhalb kürzester Zeit hatten Tausende ihre Teilnahme über Facebook angekündigt. Die Reaktionen in dem sozialen Netzwerk waren vielversprechend – die tatsächliche Teilnehmerzahl zunächst eher ernüchternd. G

 

erade einmal einige Hundert fanden sich am Samstagnachmittag bei brütenden 38 Grad im Schatten vor dem Haupteingang des Kairoer Operngeländes ein. Das Polizeiaufgebot war immens. Positiv fiel jedoch auf, dass unter den Beamten auch einige weibliche Gesetzeshüter zu finden waren. Ebenso waren nationale und internationale Medien vertreten – öffentlichkeitswirksam war die Veranstaltung somit allemal. Und genau das war Teil des erklärten Ziels: »Wir wollen ernsthaft Stellung gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigungsdelikte in Ägypten beziehen und damit die ägyptische Regierung, Medien und eine breite Öffentlichkeit auf uns aufmerksam machen«, sagen Studentin Rodayna Fareed und Frauenrechtsaktivistin Nahwand Serry, die an der Organisation der Demonstration beteiligt waren.

 

Ein Gesetz ohne Umsetzung reicht nicht aus

 

Unter den Demonstranten fanden sich neben Ägypterinnen auch zahlreiche Ausländerinnen, die sich ebenso täglich mit dem Problem der sexuellen Belästigung auf Ägyptens Straßen konfrontiert sehen. »Das Problem ist, dass es hier überhaupt kein Bewusstsein gibt«, sagt eine deutsche Demonstrantin, die seit einigen Monaten in Kairo lebt und arbeitet. »Ich habe zwar zuvor in anderen Ländern gelebt, in denen ich auch als Ausländerin aufgefallen bin und ständig angesprochen wurde, aber hier ist es diese Lüsternheit der Männer, die mir Angst macht.

 

Und das Wissen, dass ich mich selbst am helllichten Tag bei einem Übergriff nicht auf Hilfe von Umstehenden verlassen kann. Hier wird lieber weggeschaut – oder schlimmstenfalls mitgemacht.« Auch männliche Teilnehmer waren bei der Versammlung zahlreich vertreten. Einige aus eigener Empörung und Solidarität, andere als Begleitung und zum Schutz ihrer weiblichen Freunde. So beispielsweise Mohamed, der meint, dass man das Problem von zwei Seiten angehen müsse: »Die Regierung muss das neue Gesetz nun auch anwenden und Frauen bedingungslos schützen – noch wichtiger ist aber die Medienpräsenz.

 

Wir müssen ein Bewusstsein für das Problem schaffen. Die Leute müssen endlich erkennen, was hier falsch läuft.« Imam Mohammed Abdullah Nasr, der für seine Freitagspredigten auf dem Tahrir-Platz zu Zeiten der regelmäßigen Massendemonstrationen bekannt wurde, stattete der Versammlung einen Besuch ab. Nasr ist außerdem Teil der »Al-Azhar-Bewegung für einen Zivilstaat«. »Ägypten braucht mehr Kulturbewusstsein und Respekt gegenüber Frauen als Teil der Gesellschaft. Wir leben in einer Kultur, die Frauen und Mädchen degradiert. Sie sollen studieren und arbeiten, genau wie Männer. Die Menschen müssen verstehen, was ihre Religion eigentlich vorgibt«, so Nasr.

 

Der Protest wurde zudem von verschiedenen Organisationen wie »Shoft Ta7rosh« (»Ich habe sexuelle Belästigung gesehen«), »Shayfeencom« (»Wir sehen euch«) oder »Harrasmap« unterstützt. Die Mitglieder der Nichtregierungsorganisationen setzten sich bereits seit einigen Jahren für die Rechte von Frauen und ein sicheres Umfeld ohne sexuelle Übergriffe ein. Nicht selten wird dabei die eigene Sicherheit zum Schutz der Opfer aufs Spiel gesetzt. »Wir sehen, dass die Regierung begonnen hat, etwas zu unternehmen.

 

Dennoch brauchen und erwarten wir einen langfristigen Plan in Zusammenarbeit mit entsprechenden NGOs«, kommentiert ein Aktivist von »Shoft Ta7rosh« und bezieht sich damit auf ein kürzlich vom ehemaligen Übergangspräsidenten Adly Mansour verabschiedetes Gesetz. Dieses macht sexuelle Belästigung – sei es durch Worte, Gesten oder tätliche Übergriffe – offiziell zum Straftatbestand. Beschuldigte können demnach mit bis zu fünf Jahren Haft oder einer Geldstrafe von mindestens 3.000 Ägyptischen Pfund – umgerechnet etwa 300 Euro – rechnen.

 

Nach den Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Sisi wurden nach Angaben des Innenministeriums sieben Männer festgenommen. Erstaunlich wenig, wenn man bedenkt, dass mindestens fünf Frauen von jeweils mehreren Männern vergewaltigt worden sein sollen. Gegen sie und sechs weitere Männer, die im Januar 2013 während der Feierlichkeiten zum zweiten Jahrestag des Sturzes von Hosni Mubarak sexuelle Gewalttaten begangen haben sollen, läuft nun laut der ägyptischen Generalstaatsanwaltschaft ein Gerichtsverfahren.

 

Einer von ihnen ist gerade einmal 14 Jahre alt. Laut der Vereinten Nationen berichten mehr als 99 Prozent der Ägypterinnen von Belästigung. Erschreckend ist, dass für die erneute Thematisierung des Problems das grausame Video der Massenvergewaltigung einer Frau nötig war. Statt den brutalen Bildern ihres Martyriums kursieren nun jene von Sisis Besuch im Krankenhaus im Netz. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden unter dem Befehl desselben Mannes – in seiner damaligen Position als Militärchef – entwürdigende Jungfräulichkeitstests bei Demonstrantinnen durchgeführt.

Von: 
Kerstin Gröger

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