Die politische Lage in der Region und die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht stehen in einem Wechselverhältnis, das gefährlich werden kann. Brauchen wir am Ende auch einen eigenen Staat für Al-Qaida?
Wird der Staat Syrien nach dem Ende des Bürgerkriegs in seinen bisherigen Grenzen weiterbestehen? Diese Frage stellen sich nicht nur die Medien, sondern auch viele Politiker und Diplomaten. Einige Staaten der arabischen Welt sehen heute bereits anders aus als zur Zeit ihrer Unabhängigkeit: Der Sudan ist schon geteilt. Im kurdischen Teil des Irak wird es schwerer, den Unterschied zwischen Autonomie und »Staat« zu beschreiben.
Und in Libyen, wo vor allem der Osten und Westen des Landes auseinanderdriften, wissen wir gar nicht, wessen Macht wo endet. Es lohnt also, dem Thema »Grenzen« einige völkerrechtliche Überlegungen zu widmen. Unter einer Grenze stellen wir uns individuell sehr unterschiedliche Sachverhalte vor. Menschen gelangen an ihre Grenzen; bis hierher und nicht weiter; die rote Linie; über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein; der Nachbar erntet über den Zaun von meinem Apfelbaum.
Wahrscheinlich finden Grundstückseigentümer am leichtesten Verständnis für die völkerrechtlichen Fragen rund um die Grenzen. Eigentümer wissen, dass sie auf Ihrem Grundstück allein verfügungsberechtigt sind. So ist es auch bei den Staaten: Ihre Regelungsbefugnis, ihr Recht, Steuern zu erheben, ihre Polizeigewalt enden an ihren Grenzen. Besonders in Deutschland ist die Staatstheorie Georg Jellineks sehr beliebt: die Drei-Elemente-Lehre von Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Demnach hat ein von Grenzen umschlossenes Territorium geradezu konstitutive Bedeutung für die Eignung eines gesellschaftlichen Gebildes, als Subjekt des Völkerrechts anerkannt zu werden.
Das »Völkerrecht« ist eigentlich ein »Staatenrecht«, denn es regelt das Recht der Staaten
Das ist nicht immer und überall so gewesen. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Grenzen nach Osten bis zur Wiedervereinigung als vorläufig angesehen und diese erst 1990 in einem verbindlichen Vertrag festgelegt. Israel etwa hat seine Außengrenzen bis heute nie definiert. Und in beduinischen Gesellschaften mit Wanderungsbewegungen durch weite aride Gebiete sind es nicht die Linien auf dem Globus, die das Bewusstsein entstehen lassen, »hier irgendwo« in den Einflussbereich eines anderen Stammes zu geraten.
Der Hinweis auf Nomaden macht deutlich, dass die »Grenze« sehr viel älter ist als das Konzept eines »Völkerrechts«. Jäger und Sammler lebten noch grenzenlos und grenzten sich dennoch von anderen Stämmen ab. Die Übergänge zur landwirtschaftlich orientierten Sesshaftigkeit und später zur Urbanisierung verlangten nach einer Art Katasterregelung; zumindest mussten Fremde erkennen können, wo sie von der Bodennutzung ausgeschlossen sind. Erst sehr viel später entwickelte sich aus solchen Ansätzen der Begriff Souveränität (eines Herrschers oder eines Staates), deren Geltungsbereich mit Linien auf einer Landkarte gezeichnet werden konnte.
Die Konkurrenz zwischen den Souveränen legte dann den Gedanken nahe, einem daraus entstehenden Konflikt mit rechtlichen Regelungen vorzubeugen. Dabei ist der deutsche Begriff »Völkerrecht« durchaus irreführend. In der Praxis sind es die Staaten, nicht die Völker, die als Träger der Souveränität bereit sind, rechtliche Verpflichtungen zu akzeptieren. Wir sollten also eher vom »Staatenrecht« sprechen oder, wie in den meisten anderen Sprachen, einfach vom Internationalen Recht.
Trotzdem führt erst der Hinweis auf die Völker in den Kern des Problems von Grenzen in der heutigen Staatenwelt. Denn es ist das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Völker, das, neben den Rohstoffen, die größte Unruhe in die internationalen Beziehungen bringt. Palästina, Kosovo, Ossetien, Tschetschenien, Tibet, die Uiguren, die Kurden, die Katalanen – um nur ganz wenige aufzuzählen. Je nach Definition des Wortes gibt es wohl mehr als 5.000 Völker auf dieser Erde, die sich sprachlich, ethnisch, religiös oder kulturell als zusammengehörig empfinden.
Was gilt bei einer systematischen Missachtung von Schutzrechten für Minderheiten?
Wir haben aber nur ungefähr 200 Staaten. Und deren Regierungen haben keinerlei Interesse, für die vielen Völker auf ihren Staatsgebieten ein Recht auf Sezession festzuschreiben. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird zwar in der Charta der Vereinten Nationen erwähnt (Art. 1 und Art. 55), aber ausdrücklich in dem Sinne, dass ihre Beziehungen untereinander auf diesem Recht beruhen sollten. Es ist also eher ein Abwehrrecht nach außen und keine Einladung zur Bildung neuer Staaten.
Die Staaten handeln so, als sei das Selbstbestimmungsrecht der Völker nichts Anderes als der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Auch in den beiden Internationalen Menschenrechtspakten von 1966 fehlt eine Definition, was unter einem Volk zu verstehen sei: »(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.«
Das Völkerrecht besteht vor allem aus den mit Bindungswillen abgegebenen Erklärungen und Verträgen der erwähnten 200 Staaten. Deshalb kann niemand damit rechnen, im Vertragsrecht oder im Gewohnheitsrecht womöglich auf eine Rechtfertigung für einen bewaffneten Aufstand zu stoßen. Es ist aber hoch umstritten, ob etwas Anderes gilt bei einer systematischen Missachtung von Schutzrechten für Minderheiten. Manche Autoren sind der Meinung, in Bürgerkriegen könne bei gröbsten Verletzungen des humanitären Kriegsvölkerrechts ein Recht auf Abspaltung entstehen. Aber es gibt im Völkerrecht keine Norm, die besagt: Bewaffnete Aufstände dürften nicht gewaltsam niedergeschlagen werden.
Die Grenzen vieler Länder in Nahost stehen in Frage. Obsolet sind sie deshalb nicht
Ein vom eigenen Staat unterdrücktes Volk kann sich nicht auf ein Recht berufen, wenn es sich für unabhängig erklärt. Letztlich kommt es darauf an, ob eine solche Schaffung neuer Grenzen von den anderen Staaten anerkannt wird. Es ist also eher eine Frage der Macht als des vermeintlichen Rechts. So bleibt die Weltkarte vorerst optisch durch das Phänomen gezeichnet, dass viele Grenzen schnurgerade verlaufen. Die meisten davon stammen aus den Zeiten der Kolonialpolitik.
Sie sind zur Aufteilung von Einflusszonen politisch am grünen Tisch in London oder Paris, in Madrid oder Lissabon, in Brüssel oder Den Haag, zum geringsten Teil auch einmal 1885 in Berlin mit dem Lineal gezeichnet worden. Natürlich ist es heute nicht mehr zeitgemäß, sich auf koloniale Grenzziehungen zu berufen. Trotzdem sollte man sich hüten, die bisherigen Grenzverläufe übereifrig als historischen Müll zu entsorgen. Zwar zeigen die vielfältigen Krisen und Konflikte im Nahen Osten, dass die Landkarten nicht in Stein gemeißelt sind.
Ruhe kann aber erst dann eintreten, wenn Veränderungen durch Vereinbarungen zustande kommen, an denen die Bewohner beteiligt worden sind. Ehe wir uns die Vereinten Nationen mit 5.000 Mitgliedern vorstellen, können wir an Syrien durchbuchstabieren, ob am Ende je ein Staat für die Alawiten, die Sunniten, die Christen, die Drusen und die Kurden, vielleicht auch noch einer für Al-Qaida entstehen sollte. Unter den arabischen Staaten gibt es fast nur Länder mit solchen Reißbrettgrenzen: Syrien, Irak, Kuwait, VAE, Oman, Jemen, Jordanien, Saudi-Arabien, Ägypten, Sudan, Libyen, Algerien, Marokko, Mauretanien.
Trotz der Fremdbestimmung bei ihrer Entstehung ist in allen diesen Staaten ein gewisses Nationalbewusstsein entstanden. Europa sollte bei jedem Schritt seiner Nahostpolitik darauf achten, dass wir nicht inzwischen desintegrierende Wirkungen bis hin zu Bürgerkriegen erzeugen. Gerade weil die »Völker« durch sehr unterschiedliche Elemente ihrer inneren Kohäsion zusammengehalten werden – Ethnien, Sprache, Religion, Geschichte, Kultur – gibt es gefährlich viele Ansatzpunkte für Versuche, von außen die inneren Zentrifugalkräfte in Feindbilder zu verwandeln.
Wer mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechts der Völker ein Volk in seine Bestandteile zerlegen will, sollte deshalb vor einer Einmischung klarstellen, wie er glaubt, bewaffnete Konflikte vermeiden zu können. Sonst haben wir Syrien überall.