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Kais Saied und die neue Verfassung in Tunesien

Tunesien auf dem Weg zum »Hyperpräsidialsystem«

Analyse
Verfassungskrise und neue Regierung in Tunesien
U.S. Secretary of Defense

Am 25. Juli – ein Jahr nach der Machtübernahme durch Kais Saied – soll Tunesien über den Entwurf für eine neue Verfassung abstimmen. Doch kann der Populist im Präsidentenamt seine Anhänger noch immer mobilisieren?

Ein Jahr ist es her, dass Tunesien vor dem Fernseher saß und die überraschende Goldmedaille des 18-jährigen Schwimmers Ahmed Hafnaoui bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio feierte. Noch am selben Tag sollte es für den Großteil der tunesischen Bevölkerung einen weiteren Grund zum Jubeln geben – zumindest für diejenigen, die mit Regierungsführung und Krisenmanagement der islamistischen Ennahda-Regierung unzufrieden waren: Kais Saied suspendierte am 25. Juli 2021 das tunesische Parlament und setzte damit die Regierungsgeschäfte aus.

 

Nun ist ein Jahr vergangen und wieder fiebern die Menschen in Tunesien vor den Fernsehern mit einer Ikone: Ons Jabeur schaffte es als erste arabische Tennisspielerin überhaupt ins Wimbledon-Finale. Den Sieg beim prestigeträchtigsten Tennisturnier der Welt verfehlte die Weltranglisten-Zweite am 9. Juli dann aber doch.

 

Der ganz große Triumph blieb somit aus und auch auf politischer Ebene gibt es in diesem Jahr weniger Anlass zum Jubeln. Am 30. Juni 2022 legte Kais Saied einen neuen Verfassungsentwurf vor. Juristischen Fragen und der Bündelung seiner Kompetenzen scheint der Präsident höhere Priorität beizumessen als dem Kampf gegen Wirtschaftskrise und korrupte Eliten – eigentlich sein Steckenpferd und bis heute die Basis seiner Legitimität.

 

Verhärtete Fronten und Meinungsmache dominierten den öffentlichen Diskurs

 

Im Juli letzten Jahres stritten sich die Experten darüber, wie sich die Ereignisse am besten definieren ließen. Während viele internationale Medien schnell von einem Putsch sprachen, riefen tunesische Intellektuelle dazu auf, die Situation differenzierter zu betrachten. Die Stimmung in Tunesien nach dem 25. Juli 2021 war aufgeheizt.

 

Viele Menschen unterstützten den Schritt ihres Präsidenten, doch auch die Gegenstimmen fanden in den darauffolgenden Wochen und Monaten mehr Gehör. Demonstrationen und Auseinandersetzungen zwischen Saieds Anhängern und Unterstützern der zuvor an der Regierung beteiligten islamistischen Ennahda-Partei, verhärtete Fronten und populistische Meinungsmache dominierten den öffentlichen Diskurs. Für viele Aktivisten, Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler kein Konflikt, in dem sie Position beziehen wollten.

 

Kais Saied hat sich im vergangenen Jahr sein Kabinett selbst zusammengestellt und mit Beginn des Jahres 2022 wurde immer deutlicher, welche Ziele er verfolgt. Schon sein im Februar veröffentlichter Vorschlag, per Dekret den Hohen Justizrat aufzulösen, gab Anlass zur Sorge: Wie sehr sind die Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit in Tunesien in Gefahr?

 

Den Sicherheitskräften werden Kompetenzen wie zu Zeiten des Ben-Ali-Regimes eingeräumt

 

Am 25. Juli soll die tunesische Bevölkerung in einem Referendum über die neue Verfassung abstimmen. Kais Saied strebt ein Präsidialsystem an – manche Beobachter, wie der Verfassungsexperte Zaid Al-Ali , sprechen gar von einem »Hyperpräsidialsystem«, das einer einzelnen Person viel Macht bei wenig Rechenschaft zugesteht. Der Entwurf kennt die Teilung von Legislative, Exekutive und Judikative, nicht aber als gleichberechtigte Staatsgewalten.

 

Im Gegensatz zur alten Verfassung von 2014 fallen viele Kontrollmechanismen von Parlament oder Justiz weg. So sieht der neue Verfassungsentwurf etwa keine parlamentarische Kontrolle der Sicherheitskräfte vor. »Das ist ein Schritt zurück«, meint Fadil Aliriza im Gespräch mit zenith. Der Chefredakteur der Medienplattform Meshkal bemängelt, dass den Sicherheitskräften Kompetenzen wie zu Zeiten des Ben-Ali-Regimes eingeräumt werden. »Und das war ein Polizeistaat.«

 

Dazu trägt auch der Artikel 95 bei. Er schreibt den Ausnahmezustand fest, den der Präsident im Falle eines von ihm definierten Notstands ausrufen kann und damit alleinige Machtbefugnis garantiert. Auch hier bedarf es keiner Überprüfung durch Parlament oder Verfassungsgericht, wie es in der bisherigen Verfassung der Fall war.

 

Wenige Tage nach der Veröffentlichung veränderte Kais Saied noch einmal einige Kleinigkeiten. Grammatikalische Fehler und unklare Formulierungen mussten behoben werden und auch auf die Problematik von Artikel Nummer 5 verwiesen Rechtsexperten: »Tunesien ist Teil der Islamischen Gemeinschaft und arbeitet auf deren Ziele hin« – gegen diese Formulierung und der damit einhergehenden Gefahr, dass Tunesien zu einem religiös verbrämten Staat ohne Festschreibung der Zivilstaatlichkeit mutieren könne, regte sich Kritik. Daraufhin fügte der Präsident die Ergänzung »innerhalb eines demokratischen Systems« hinzu.

 

Nicht zum ersten Mal nahm er Änderungen an dem Verfassungsentwurf vor: Saied hatte ein Komitee zur Erstellung jenes Entwurfs einberufen. Der am 20. Juni von Sadeq Belaid, dem Vorsitzenden des Komitees, überreichte Text unterschied sich von dem zehn Tage später veröffentlichten Entwurf anscheinend maßgeblich. Belaid distanzierte sich von dem neuen Dokument. »Mit dem von uns verfassten Dokument hat dieser Verfassungsentwurf nichts mehr zu tun«, sagte er gegenüber der tunesischen Tageszeitung Assabah.

 

Saied versucht einen Feind zu kreieren, gegen den er gemeinsam mit dem tunesischen Volk zu kämpfen vorgibt

 

Noch hegen große Teile der Bevölkerung die Hoffnung, dass ihr Präsident den Kampf gegen die Korruption vorantreibt und sich gegen »die Eliten« stellt, die für die dramatische wirtschaftliche Lage des Landes seit 2011 verantwortlich gemacht werden. Auch ein Grund, warum der parteipolitische Protest gegen die Verfassung dem Präsidenten innerhalb der Bevölkerung mehr Legitimität verschafft.

 

Tunesien steht kurz vor dem Bankrott. Corona, Krieg in der Ukraine und Klimawandel heizen Wirtschaftskrise und Lebensmittelpreise an. Neue Abkommen mit den Internationalen Währungsfonds, die die ökonomische Situation breiter Teile der Bevölkerung weiter verschlechtern werden, scheinen kaum noch abwendbar – zu sehr ist Tunesien auf Kredithilfen angewiesen. Dass sich Kais Saied in dieser Situation mit juristischen Fragen und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beschäftigt, lässt auf seine Prioritäten schließen.

 

In seinen auf Hocharabisch formulierten Ansprachen erwähnt Kais Saied stets die dritte Person Plural. Das ist keine Eigenart, sondern ein bewusst gewählter Teil seiner Anti-Establishment-Rhetorik. Wen er mit »sie« genau meint, bleibt Interpretationssache: »Die Anti-Islamisten können eine Referenz zu Ennahda erkennen, Linke eine Anspielung auf die Kapitalisten«, schreibt etwa Politikwissenschaftler Mohamed-Dhia Hammami auf Twitter .

 

Klar scheint: Kais Saied versucht einen Feind zu kreieren, gegen den er gemeinsam mit dem tunesischen Volk zu kämpfen vorgibt. Seit der Revolution 2011, so die Argumentation, sei die Bevölkerung betrogen worden, jetzt aber soll die Revolution ihre Früchte tragen. Er sieht sein Handeln in Kontinuität dieser Umbrüche und spricht immer wieder von einer Kurskorrektur. Aufrufe wie, »Stimmt mit ja, damit der Staat nicht erstarrt und die Ziele der Revolution erreicht werden«, finden sich auf Plakaten am Straßenrand.

 

Kais Saied äußerte sich in seiner Ansprache am Vorabend des Opferfestes am 8. Juli auch zu den laut ihm paradoxen Vorwürfen hinsichtlich einer Rückkehr zu vorrevolutionären Verhältnissen. »Wer etwas anderes behauptet, ist selbst Teil eines tyrannischen und diktatorischen Regimes«, urteilte der 64-Jährige bei seiner Rede im Staatsfernsehen.

 

Seit seiner Machtübernahme 2021 geht Kais Saied immer wieder gegen ehemalige Regierungsmitglieder der Ennahda-Partei vor. Am 23. Juni wurde der ehemalige Premierminister Hamadi Jebali verhaftet und vier Tage festgehalten. Zwei Wochen später ließ ein Gericht die Konten des früheren Regierungschef Rached Ghannouchi einfrieren.

 

Ein Dekret nutzte der Präsident bereits, um 57 Richter zu entlassen

 

Die Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative verschwimmt derweil immer mehr. Das verdeutlicht auch das Anfang Juni erhobene Dekret 35, mit dem sich Saied das Recht rausnimmt, Richter eigenständig zu feuern. Diese Änderung machte er sich im selben Atemzug zu Nutze und enthob 57 Richter ihres Amtes. Viele von ihnen zog es daraufhin auf die Straßen; einige traten sogar in den Hungerstreik.

 

Massenproteste auf den Straßen gegen den Präsidenten sowie gegen die Verfassung bleiben bislang allerdings aus. Der Protest umfasst hauptsächlich spezifische Gruppen, wie Politiker der Vorgängerregierung, Menschenrechtsaktivisten sowie Teile der Zivilbevölkerung. »Der Sommer ist heiß, die Temperaturen erreichen die 40-Grad-Marke«, erklärt Fadil Aliriza. Er vermutet, dass sich das derzeitige Desinteresse der Tunesier an Politik auch in dem Referendum widerspiegeln wird. »Die Menschen durchleben eine harte Zeit und versuchen in erster Linie, wirtschaftlich über die Runden zu kommen.«

 

Dennoch mehren sich in den vergangenen Wochen und Tagen Stimmen gegen den Präsidenten und dessen neue Verfassung. Der Gewerkschaftsbund UGTT, der sich lange Zeit bedeckt gehalten hatte, warnte vor dem Missbrauchspotenzial der neuen Verfassung und dem mangelndem Schutz elementarer Grundrechte. Auch die tunesische Journalistenunion positionierte sich gegen Kais Saied und sieht vor allem die Presse- und Meinungsfreiheit in Gefahr. Bereits im Mai dieses Jahres gründete sich die »Nationale Heilsfront«, ein Zusammenschluss oppositioneller Parteien sowie politischer Bewegungen.

 

Kais Saied tut sich schwer, seine Anhänger zu mobilisieren

 

Viel Zeit für öffentliche Debatten bleibt nicht – zwischen Veröffentlichung des Verfassungsentwurfs und dem Referendum liegen lediglich drei Wochen.

 

»Die politische Opposition hat keinen spürbaren Einfluss auf die öffentliche Diskussion«, meint Ghaya Ben Mbarek im Gespräch mit zenith. Die freie Journalistin führt seit Veröffentlichung des Verfassungsentwurfs zahlreiche Straßeninterviews, um ein Stimmungsbild zu bekommen. »Selbst im Oberklasseviertel Sidi Bou Said antworteten mindestens drei von fünf Personen, mit Ja stimmen zu wollen.« Insgesamt seien es acht von zehn, schätzt sie. »Der Rest stimmt entweder mit Nein oder boykottiert die Abstimmung.«

 

Die Ansicht, der Großteil der Tunesier würde Kais Saieds Kurs unterstützen, hinterfragen die Politikwissenschaftler Mohamed-Dhia Hammami und Sharan Grewal. Sie verweisen auf die Ungenauigkeit von Umfragen sowie die Diskrepanz zwischen Meinung und politischem Handeln. »Trotz der durch Umfragen vermuteten breiten Unterstützung für Kais Saied, hat der sich damit schwergetan, seine Anhänger zu mobilisieren«, schreiben die Autoren in einem Meinungsartikel in der Washington Post und verweisen etwa auf Kais Saieds Aufruf im Februar, gegen den Obersten Justizrat zu demonstrieren, dem weniger als 400 Menschen gefolgt seien.

 

»Offensichtlich bemüht sich Kais Saied um Wählerstimmen«, beobachtet auch Aliriza. Der Präsident hat die Abstimmungszeit in die Nacht ausgeweitet – die Wahllokale werden auch afgrund der Hitze bis 22 Uhr geöffnet sein.

 

Und was passiert, wenn sich die Mehrheit gegen das Referendum ausspricht oder die Wahlbeteiligung zu gering ausfällt? Dafür gibt es bisher keine Regularien. Artikel 139 der neuen Verfassung schreibt deren Annahme am 25. Juli vor. »Auch wenn die Nein-Stimmen überwiegen«, vermutet Fadil Aliriza, »wird die Verfassung in Kraft treten.«

Von: 
Hannah Jagemast

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