Warum urteilen deutsche Gerichte über Menschenrechtsverbrechen in Syrien? Dafür gibt es politische und historische Gründe. Das Urteil von Koblenz schafft zudem neue Rahmenbedingungen.
Am 13. Januar schrieb das Oberlandesgericht Koblenz Geschichte, in dem es einen ehemaligen Ermittlungsleiter des syrischen Geheimdienstes, Anwar R., wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig sprach. Kurz nachdem in Koblenz zum ersten Mal der systematische Angriff des Assad-Regimes gegen die eigene Zivilbevölkerung juristisch bestätigt wurde, begann in Frankfurt ein zweiter Prozess zur syrischen Staatsfolter. Diesmal steht ein syrischer Militärarzt aus Homs vor Gericht.
Das sogenannte Weltrechtsprinzip erlaubt Strafverfolgung in schwerwiegenden Fällen, wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen, unabhängig von einem Bezug zum Inland. Dieses Prinzip wurde 2002 im deutschen Völkerstrafgesetzbuch verankert und erlaubt der Bundesanwaltschaft die Strafverfolgung von im Ausland begangenen Verbrechen, auch wenn weder Angeklagte noch Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
Wie kaum ein anderes Regime haben die Nationalsozialisten Unrecht begangen, dem aber gleichzeitig mit Gesetzen und Erlassen den Anstrich der Legitimität verliehen. Menschenrechte sind jedoch universal, deswegen gibt es sowohl den Anspruch als auch die Möglichkeit, sie einzufordern und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden. Die Verbrechen des NS-Staates verdeutlichen den Missbrauch staatlicher Machtpriviliegien, bei denen die Schutzverantwortung keine Rolle spielt. Die Nürnberger Prozesse der Alliierten lassen sich im Gegensatz dazu so interpretieren, als komme der Bundesrepublik damit auch eine besondere Verantwortung zu.
Es ist an der Zeit für Deutschland, Verantwortung zu übernehmen
Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für den ehemalige Mitarbeiter des syrischen Folterstaates in Deutschland angeklagt werden, wurde erstmals durch die Nürnberger und Tokioter Prozesse definiert. Lange hatte sich Deutschland nicht durch das Vorantreiben des Weltrechtsprinzips hervorgetan: Erst 2009 wurden entsprechende Stellen bei der Generalbundesanwaltschaft und beim Bundeskriminalamt geschaffen.
Andere europäische Länder hatten bereits seit den späten 1990er-Jahren Menschenrechtsverbrechen auf Grundlage des Weltrechtsprinzips verfolgt und verurteilt. In manchen dieser Länder ist seitdem jedoch die Anwendbarkeit auf Täter oder Betroffene der jeweiligen Staatsbürgerschaft eingeschränkt worden und somit auch die Möglichkeiten der Syrerinnen und Syrer in ihrem Kampf um Gerechtigkeit.
Gerade aufgrund der langen Untätigkeit ist es jetzt für Deutschland an der Zeit, mit Prozessen wie denen in Koblenz und Frankfurt Verantwortung zu übernehmen. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die damit verbundenen Prozesse, so unvollkommen sie auch sein mögen, erscheinen aus der Sicht syrischer Aktivisten als Vorbild. Dabei steht die syrische Aufarbeitung und Strafverfolgung aufgrund des bisherigen Fortbestandes eben jenes Regimes, welches die Menschenrechtsverbrechen gegen seine Bevölkerung verübt hat, und dem Leben im Exil, vor ganz anderen Herausforderungen als Nachkriegsdeutschland.
Die Strafverfolgung und juristische Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien geschieht, während das syrische Regime weiter Menschenrechtsverbrechen verübt. Auch wäre hier noch einiges verbesserungswürdig, zum Beispiel, den Bedürfnissen der Zeugen und Nebenkläger entgegenzukommen, etwa mit Zeugenschutzprogrammen und psychologischen Beistand.
Selbstverständlich hätten die Kläger ihren ehemaligen Peinigern lieber in Syrien den Prozess gemacht. Doch dies ist nicht möglich, solange das Regime von Baschar Al-Assad, welches den Großteil aller Menschenrechtsverbrechen in Syrien verantwortet, weiterhin an der Macht ist. Auch der Weg über den Internationalen Strafgerichtshof oder ein Ad-hoc-Tribunal wird durch ein russisches und chinesisches Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen blockiert. Dennoch finden syrische und internationale Menschenrechtler mit viel Engagement und Mut Wege, um ein Zeichen zu setzen, dass Menschenrechtsverbrechen geahndet werden.
Wir kennen die schwierigen Diskussionen mit der Kriegsgeneration
In mehreren europäischen Ländern werden Strafverfahren nach dem Weltrechtsprinzip angestrebt, Frankreich und Deutschland haben Haftbefehle gegen hochrangige Offiziere des Assad-Regimes ausgestellt. Sollten die beiden Regime-Vertreter ausländischen Boden betreten, müssen sie damit rechnen, verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden. Gleichzeitig bemühen sich die Niederlande und Kanada, das syrische Regime für Verstöße gegen die UN-Konvention gegen Folter vor den Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen zu bringen.
Manche der Dilemmata der syrischen Aufarbeitung sind im deutschen Diskurs nicht neu. Ein Beispiel ist die kontrovers diskutierte Verantwortung des in Koblenz verurteilten ehemaligen Abteilungsleiters und späteren Deserteurs der staatlichen syrischen Foltermaschinerie Anwar R. In Deutschland kennen wir die schwierigen Diskussionen mit der Kriegsgeneration. Die bekannten Argumente »Wir haben davon nichts gewusst« und sich selbst als Opfer, als kleines Rädchen in einer Befehlskette wahrzunehmen, werden auch von den syrischen Angeklagten vorgetragen.
Die Richter in Koblenz stellten sich jedoch entschieden gegen diese Auslegung. Die Taten des Angeklagten seien zu schwerwiegend, außerdem hätte er Syrien bereits zu einem früheren Zeitpunkt als im Dezember 2012 verlassen können. Als Leiter der Vernehmungsabteilung habe er, auch wenn er die Folter nicht persönlich ausgeführt habe, über die Entscheidungs- und Befehlsgewalt verfügt.
Das ist eine wichtige Feststellung auch für zukünftige Prozesse zu syrischer Staatsfolter. Der historisch-politischen Bedeutung dieser Prozesse muss die deutsche Justiz jedoch noch gerecht werden, indem sie sie für die syrische Öffentlichkeit zugänglich macht, zum Beispiel, indem sie ins Arabische übersetzt und besser dokumentiert.
Dass diese Prozesse hierzulande stattfinden, liegt nicht zuletzt daran, dass in Deutschland viele Betroffene leben. Über 800.000 Syrerinnen und Syrer haben in Deutschland Schutz gesucht, weswegen der Bundesrepublik auch im politischen Streben nach Gerechtigkeit eine besondere Rolle zukommt. Denn für die syrischen Folterüberlebenden und Angehörigen Vermisster ist das Urteil zwar ein wichtiger Schritt, aber kein Trost. Über 130.000 Menschen sind seit 2011 in den Foltergefängnissen des syrischen Regimes verschwunden, 2.200 allein im letzten Jahr.
Für die Angehörigen ist es wichtig, dass die internationalen Bemühungen um ihre Freilassung gestärkt werden und der Prozess außenpolitische Konsequenzen nach sich zieht, wie etwa erhöhter Druck auf Syriens Verbündeten Russland und jene Staaten, die eine Normalisierung ihrer Beziehungen mit dem Assad-Regime anstreben. Innenpolitisch muss das Urteil Konsequenzen für die deutsche und europäische Asylpolitik haben. Der Abschiebestopp nach Syrien ist Ende 2020 ausgelaufen. Bislang wird nur wegen fehlender Kontakte zu den syrischen Behörden nicht abgeschoben. In Dänemark fürchten sich derweil tausende syrischer Geflüchtete vor einer Abschiebung in das als teilweise »sicher« eingestufte Herkunftsland.
Das Koblenzer Urteil unterstreicht das Ausmaß dieser Fehleinschätzung und ist ein erster Schritt auf dem Weg zu Gerechtigkeit, da es zum ersten Mal das allgemein Bekannte juristisch bestätigt: Baschar Al-Assad und sein Regime gehen bei der Bekämpfung seiner »friedliche[n] politische[n] Gegner bis hin zu ihrer physischen Vernichtung« und führen einen »systematischen Angriff gegen die eigene Zivilbevölkerung«. Damit ist eine grundlegende Komponente für die Feststellung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und richtungsweisend für zukünftige Verfahren zum Syrienkonflikt gelegt. Menschenrechte zu schützen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern sind universale Anliegen.
Gerade Deutschland stünde es gut an, syrische zivilgesellschaftliche Bestrebungen für Gerechtigkeit weiter zu unterstützen. Dazu muss die Regierung die entsprechenden juristischen Kapazitäten ausbauen. Vor allem aber muss sie sich im europäischen Rahmen dafür einsetzen, die Asyl- und Außenpolitik an den durch die Prozesse dokumentierten Gegebenheiten auszurichten. Niemand kann nach Syrien zurückgeschickt werden, solange dort weiter Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden.
Sara Stachelhaus ist Programmkoordinatorin im Beiruter Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.