Lesezeit: 6 Minuten
Ruth Gavison und die Verfassung in Israel

Die Identitätssucherin

Portrait

Israel ist nach eigenem Selbstverständnis die einzige Demokratie im Nahen Osten. Wie aber verhalten sich das jüdische und das demokratische Element dieses Staates zueinander? Diese Frage soll nun geklärt werden – von Ruth Gavison.

Am 27. Oktober 1958 stellte David Ben-Gurion 50 Intellektuellen die Frage: »Wer ist Jude und was bedeutet es, Jude zu sein?« Israels erster Ministerpräsident erhielt 50 unterschiedliche Antworten; die einen im Einklang mit der Halacha, die anderen nicht – alle nachzulesen in dem von Eliezer Ben-Rafael herausgegebenen Band »Jewish Identities. Fifty Intellectuals answer Ben Gurion«.

 

Jede einzelne war das Ergebnis kultureller, historischer und politischer Ereignisse innerhalb der Gesellschaften, in denen die Befragten –  sowohl vor als auch nach der Staatsgründung im Jahr 1948 – lebten und der daraus resultierenden individuellen Erinnerung sowie identitätsstiftenden Lebenserfahrungen, die wiederum unauflöslich mit dem durch Mythen, religiöse Riten und säkularen Narrativen entstandenen kollektiven Gedächtnis der israelischen Nation verbunden waren.

 

Bis heute ist die Frage, wie sich das jüdische und das demokratische Element des Staates Israel zueinander verhalten, nicht abschließend beantwortet. Die israelische Justizministerin Tzipi Livni hat deshalb nun die Initiative ergriffen und Ruth Gavison beauftragt, einen Verfassungsvorschlag zu formulieren, der diese Identitätsfrage klärt.

 

Vollblutakademikerin und Humanistin

 

Ruth Gavison ist die richtige Wahl für diese schwierige Aufgabe. Die Jura-Professorin der Hebräischen Universität zu Jerusalem besuchte das elitäre Reali-Gymnasium in Haifa, wurde in Oxford mit einer Arbeit zur Rechtsphilosophie promoviert, hat später unter anderem in Yale gelehrt und in Princeton geforscht; 2011 gewann sie zudem den »Israel-Preis«, die höchste Auszeichnung, die zwischen Mittelmeer und Jordan von der Regierung vergeben wird.

 

Zudem gehört die 68-Jährige zu den Gründern der »Vereinigung der Bürgerrechte in Israel« und engagierte sich über Jahre bei der israelischen Sektion von »Human Rights«. Für die in Israel nicht unumstrittene Verfechterin einer Zwei-Staaten-Lösung – die sie indes nicht in naher Zukunft sieht –, ist klar: ein religiöser Staat kann per definitionem nicht gleichzeitig ein demokratischer Staat sein. Und doch will die Vollblutakademikerin den Spagat meistern, das jüdische Element – wie auch immer dieses definiert wird – in ihren Vorschlag zu integrieren.

 

Anders wird es auch nicht gehen, angesichts der demografischen Entwicklung in Israel. Einzig: Wenn die Stimmen der Mitte sich nicht jetzt erheben, so wird von säkularer Seite befürchtet, dann wird Israel von Jahr zu Jahr religiöser, verschwimmt die Grenze zwischen Halacha und säkularem Recht immer mehr, geraten Frauen- und Minderheitenrechte zu Worthülsen auf dem Papier. Die gegenwärtigen Entwicklungen in Beit Schemesch, einer Kleinstadt zwischen Jerusalem und Tel Aviv, die einst säkular gewesen ist und gegenwärtig zum Schlachtfeld zwischen Haredim auf der einen Seite und säkularen sowie national-religiösen Israelis auf der anderen Seite avanciert ist, verdeutlicht dies.

 

Auf den Punkt gebracht: Die Initiative von Tzipi Livni kommt zur richtigen Zeit – und gleichsam stellt sie Ruth Gavison vor eine fast unlösbare Aufgabe, die zu lösen seit 1948 stets vertagt worden ist. Nun gilt es: Fiat iustitia, et pereat mundus.

Von: 
Dominik Peters

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.