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Protestgesetz in Ägypten

Der Protest für den Protest

Feature

Keine 48 Stunden nach der Verabschiedung des neuen »Protestgesetzes« stellt Ägyptens Bevölkerung dieses bereits auf die Probe. Sicherheitskräfte und Militär scheuen sich dabei nicht, von ihren Befugnissen Gebrauch zu machen.

Dienstag, 26. November, 17.30 Uhr. Im Café Riche, einem der ältesten Cafés in Kairo, läuft das Alltagsgeschäft. Niemand bekommt mit, wie sich wenige Meter weiter auf dem Talaat-Harb-Platz eine Demonstration formiert. Doch plötzlich wird es laut auf der Straße vor dem Café. Menschen mit Schildern und Plakaten ziehen vorbei, ein Mann betritt den Raum und warnt vor möglichen Ausschreitungen, da die Menschenmenge auf dem Talaat Harb stetig wächst.

 

Es handle sich wohl um einen Protest gegen das neue Versammlungsgesetz, sagt er. Andere Gäste im Lokal berichten von Zusammenstößen wenige Stunden zuvor an anderer Stelle in Kairos Downtown, wo bereits eine Demonstration unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst und zahlreiche Teilnehmer in Gewahrsam genommen worden waren. Noch wirkt alles friedlich, doch die Vermutung liegt nahe, dass die Sicherheitskräfte auch hier nicht tatenlos zusehen werden. Im Café Riche wird man langsam unruhig, die Rollläden werden geschlossen aus Angst um die großen Fensterfronten.

 

Schnell wird klar, dass sich inzwischen auch Militär und Polizei in Bewegung gesetzt haben und vom nahegelegenen Tahrir-Platz in Richtung Talaat Harb ziehen, um den unliebsamen Protest möglichst schnell aufzulösen. Auf der Straße beginnen die Menschen mit einem mal, fluchtartig zu rennen. Das Letzte, was von den Räumen des Cafés aus zu sehen ist, bevor auch der letzte Rollladen die Sicht versperrt, ist eine große Wolke Tränengas.

 

Im Laufe des Tages werden mehr als 40 Personen verhaftet

 

Es ist die dritte Demonstration an diesem Tag, die auf diese Art und Weise aufgelöst wurde. Bereits am frühen Nachmittag waren vor dem Gebäude des Journalistenverbands sowie in der Nähe des Innenministeriums einige hundert Demonstranten unter anderem gegen Militärverfahren gegen Zivilisten – die Teil des aktuellen Verfassungsentwurfes sind – auf die Straße gegangen. Im Laufe des Tages wurden mehr als 40 Personen verhaftet und über Stunden hinweg festgehalten, unter ihnen bekannte Aktivisten und Journalisten, viele davon Frauen.

 

Auf Twitter wurde von massiver Gewaltanwendung der Ordnungshüter berichtet. Das »Egyptian Center for Economic & Social Rights« (ECESR) verurteilt das Vorgehen als »übermäßigen und brutalen Einsatz von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte« und spricht sogar von über 50 Festnahmen. Bei der Lektüre der 25 Artikel des neuen Gesetzes wird schnell deutlich, dass es sich möglicherweise lediglich um eine neue Verpackung für den wenige Tage zuvor beendeten Ausnahmezustand handelt.

 

Die Festsetzung dessen, was zuvor als vorübergehendes Machtzugeständnis für den Sicherheitsapparat galt und – angesichts der chaotischen Zustände nach Absetzung Muhammad Mursis im Juli – auch augenscheinlich vom Großteil der Bevölkerung als solches akzeptiert wurde. Versammlungen jeglicher Art müssen von nun an mindestens drei Werktage im Voraus bei der zuständigen Polizeibehörde angemeldet werden, gelten andernfalls als illegal und unterliegen laut Artikel 10 bei »konkreten Anhaltspunkten für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« einem Vetorecht.

 

Vor allem Artikel 12 und 13 rufen Kritiker auf den Plan. Hierin wird das Vorgehen von Polizei und Militär bei der Auflösung einer vermeintlich sicherheitsgefährdenden Demonstration festgelegt.

 

Polizisten und Militärs dürfen auch scharfe Munition einsetzen

 

Die Sicherheitskräfte sind demnach nicht nur befugt, nach mündlicher Vorwarnung Wasserwerfer, Tränengas und schließlich Gummigeschosse einzusetzen, sondern im Falle einer Eskalation auch mit scharfer Munition gegen Demonstranten vorzugehen. Explizit heißt es, der Sicherheitsapparat solle »mit der bestehenden Gefahr entsprechenden Mitteln« reagieren.

 

Besonders von Gruppierungen, die sich in der Revolution 2011 hervorgetan haben – wie beispielsweise der »Jugendbewegung des 6. April« – werden das neue Gesetz und die damit verbundenen Einschränkungen des Versammlungsrechts als weiterer repressiver Schachzug des aktuellen Militärregimes betrachtet. Wieder im Café Riche – 19 Uhr. In den vergangenen eineinhalb Stunden war von dem Trubel auf der anderen Seite der Wand nicht viel mitzubekommen.

 

Inzwischen wurde der Fernseher lauter gedreht, noch ein Bier bestellt, tischübergreifende Bekanntschaften geknüpft. Der Lärm auf der Straße direkt vor dem Café hat sich gelegt. Die ersten Gäste wollen das Lokal verlassen. Der Rollladen vor der Eingangstür wird langsam geöffnet. Draußen bietet sich ein Bild der Verwüstung.

 

»Polizisten sind Verbrecher, Polizisten sind Terroristen«

 

Die Steine, die eigentlich dazu genutzt werden sollten, den Bürgersteig zu erneuern, liegen nun wild auf der Fahrbahn verstreut. Einige davon wurden verwendet, um eine Art Schutzwall zu errichten – mit nur wenigen Zentimetern Höhe nicht wirklich effektiv. Schwarzer Rauch steigt von mehreren brennenden Papierhaufen auf, die nahezu die einzige Lichtquelle sind. Ein kleiner Junge hievt einen Autoreifen ins Feuer.

 

Ein paar Meter weiter ist der Talaat Harb immer noch Schauplatz des Protests. Parolen wie »Polizisten sind Verbrecher, Polizisten sind Terroristen« sind zu hören. Polizei und Militär jedoch haben sich inzwischen wieder in Richtung Tahrir-Platz zurückgezogen. Als Reaktion auf die Verabschiedung des Versammlungsgesetzes und die daraus resultierenden Festnahmen am Dienstag wurden über Twitter Stimmen zur Planung eines Sit-in-Protests auf dem Talaat-Harb-Platz laut.

 

Außerdem solle eine weitere Demonstration gegen das Gesetz für den 1. Dezember offiziell angemeldet werden, kündigt Mohamed Adel, Gründungsmitglied der »Jugendbewegung des 6. April«, an. Es bleibt abzuwarten, wie die aktuelle Übergangsregierung auf diese gesetzeskonforme Anmeldung eines offiziellen Protests gegen ihr eigenes Regelwerk reagiert.

Von: 
Kerstin Gröger

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