Lesezeit: 7 Minuten
Politischer Reisebericht zur Revolution in Ägypten

Ein Volk, das sich nicht kennt

Feature

Politologe Asiem El-Difraoui hat die Menschen hinter den Umbrüchen in Ägypten getroffen. Sein politischer Reisebericht gewährt Einblick in eine Gesellschaft, die man aus den Medien zu kennen glaubt, sich aber erst selbst kennenlernt.

So überrascht viele Ägypter und nahezu alle politischen Beobachter von den Umbrüchen am Nil waren, so schnell waren die ersten Analysen auf dem Markt. Der »Aufstand der arabischen Jugend« wurde ebenso beleuchtet wie die Optionen zwischen »Krieg oder Frieden« am Nil. Auch die »Tage des Zorns« in der gesamten arabischen Welt wurden bereits 2011 beschrieben. Asiem El-Difraoui hat sich mit seinem Buch mehr Zeit gelassen.

 

Der Politikwissenschaftler, preisgekrönte Autor und Produzent von Dokumentationen wie »Die Sprache der Al-Qaida« und »Tahrir 2011 – The Good, the Bad and the Politician«, verfolgte die Geschehnisse in Ägypten von Anfang an und setzte mit seinen Kommentaren differenzierte Akzente. So entkräftete er etwa im Oktober 2012 den Mythos der ägyptischen »Facebook-Revolution«, ohne dabei die entscheidende Rolle der – klassischen und neuen – Medien bei den Umbrüchen in Ägypten und den arabischen Nachbarländern zu schmälern.

 

Nun, über zwei Jahre und zwei Machtwechsel später, legt er seinen literarischen Beitrag zur ägyptischen Revolution und dem, was sie auslöste, vor: »Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Aufruhr«, heißt sein politischer Reisebericht, der gerade in der Edition Koerber-Stiftung erschien. El-Difraoui nimmt den Leser mit auf eine Reise durch Ägypten: Vom medialen Zentrum der Proteste, dem Tahrir-Platz in Kairo, geht es sowohl in noble als auch weniger vornehme Vororte der Millionen-Metropole.

 

Die Slums der Hauptstadt sind ebenso Schauplatz seiner Begegnungen wie die abgeschotteten Treffpunkte der ägyptischen Eliten am Roten Meer, in Alexandria taucht El-Difraoui ein in die Welt der Salafisten. Ägyptische Bauern öffnen dem Autor ihre bescheidenen Häuser jenseits von sozialen Netzwerken und medial verwertbaren Kulissen, im leeren Fußballstadion von Port Said werden Erinnerungen an die Ausschreitungen im Februar 2012  wach, bei denen 74 Menschen ums Leben kamen.

 

Im Nord-Sinai lässt El-Difraoui Beduinen zu Wort kommen und besucht Rafah, den Grenzort zum Gazastreifen. Die nubische Minderheit trifft er südlich des Assuan-Staudamms, bevor die Reise weitergeht ins oberägyptische Kom Ombo. Wo vor rund fünfzig Jahren noch Karol Wojtyla Titularbischof war, begegnet El-Difraoui heute verunsicherten Christen. Viel Stoff für gerade einmal 260 Seiten.

 

Doch die Reise durch die zahlreichen, kontrastreichen Stationen und die Begegnungen mit den noch zahlreicheren, einander so oft widersprechenden Protagonisten fügt sich bei El-Difraoui zu einem informativen Mosaik, das sich beim Lesen Stück für Stück zusammenfügt und gleichzeitig seine Fragilität offenlegt. Da sind die zwei schmuckbehangenen Damen an einer Bar im »Luxusghetto« El-Gouna, für die die Armut der ägyptischen Bauern, der Fellachen, einem unumstößlichen Naturgesetz gleicht, an dem nichts geändert werden müsse.

 

Da sind jedoch auch die »Gegeneliten« der Muslimbrüder und der Salafisten, die der Arroganz des Geldadels gegenüber der Durchschnittsbevölkerung in nichts nachstehen. Der Bauer Ahmed verachtet seinerseits den mittlerweile gestürzten Mohamed Mursi und fragt sich, wer denn überhaupt noch in Frage käme, um das Land zu lenken. Das Militär? Der Filmemacher Amr Salama, der Einblick in seine persönliche Sinnsuche vom Salafisten zum Aufklärer über das HI-Virus gibt, hat andere Vorstellungen: »Eine echte Revolution wäre, wenn es endlich einmal einen Anführer gäbe, der dem Volk zuhört und Kompromisse macht«.

 

»Bleiglocke der Diktatur«

 

Dass es El-Difraoui gelingt, seine Leser trotz der Fülle an Informationen und einander widersprechen-den Standpunkten nicht zu verlieren, liegt daran, dass der Autor unbeirrbar seinem Ziel folgt: Er will dem Leser »jene Menschen aus Ägypten, die hinter dem Wandel stehen«, näherbringen.

 

Und diese Menschen lässt er zu Wort kommen. Er erklärt, er ordnet ein, doch die große Bühne überlässt er seinen Protagonisten. Anspruch darauf, die vielschichtigen und in vieler Hinsicht völlig offenen Entwicklungen am Nil komplett zu erfassen, erhebt El-Difraoui trotz seiner Expertise aber nicht: »Die Menschen und ihre individuellen Geschichten kennenzulernen, hilft, besser zu verstehen, was die Ursachen und treibenden Kräfte hinter den dramatischen Entwicklungen sind, deren Folgen wir ebenso wenig voraussehen können wie jene, die direkt an ihnen beteiligt sind«.

 

»Wir sind ein Volk, das sich nicht kennt«. So beschreibt einer der Gesprächspartner El-Difraouis, der Filmemacher Amr Salama, die ägyptische Gesellschaft. Dreißig Jahre lang habe eine »Bleiglocke der Diktatur« nahezu alle gesellschaftlichen, religiösen, politischen und ethnischen Gruppen unterdrückt. Umso heftiger entladen sich nun sämtliche Spannungen und Hoffnungen dieser Gruppen, die einander ebenso wenig vertraut sind wie dem Beobachter von außen. Genau hier setzt Asiem El-Difraoui an: Er gibt Raum für die individuellen Geschichten seiner Gesprächspartner und ordnet diese in den großen historischen Kontext ein. El-Difraoui bezeichnet sein Buch als Momentaufnahme – es ist eine Momentaufnahme mit Weitblick.

 


Ein neues Ägypten? Reise durch ein Land im Aufruhr

Asiem El-Difraoui

Edition Körber-Stiftung, 2013

264 Seiten, 16 Euro 

Von: 
Katharina Pfannkuch

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.