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Neues Abtreibungsgesetz in der Türkei

Vorstoß des »Vagina-Wächters«

Feature

Der türkische Premier Erdoğan zeigt sich besorgt um das Bevölkerungswachstum – und prescht mit kontroversen Erklärungen für ein neues Abtreibungsgesetz voran. Frauenrechtsverbände sind empört und kündigen Demonstrationen an.

Ende letzten Monats hat Premierminister Erdoğan, bekannt für seine kontroversen Reden, erneut für einen Eklat gesorgt. Abtreibung, so ließ er sein Volk am 27. Mai bei einer Veranstaltung im Fußballstadion von Galatasaray Istanbul wissen, gehöre verboten. Denn, so Erdogan, »Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Töten des Fötus im Mutterleib und dem nach der Geburt.«

 

Ein Schwangerschaftsabbruch solle nur noch bis zur 4. Schwangerschaftswoche und nur in medizinischen Notfällen erlaubt sein – seit 1983 ist Abtreibung bis zur 10. Woche legal, die Frauen müssen keine Gründe angeben. Bei der Eröffnung eines privaten Krankenhauses in Istanbul einige Tage später bekräftigte Erdoğan seine Forderungen nochmals:

 

»Wir bereiten ein Gesetz zur Abtreibung vor und wir werden dieses auch durchbringen. Jetzt treten einige nach vorne und sagen, Abtreibung sei ein Recht. Sie sagen, wenn die Frau abtreiben will, dann soll sie es tun. Niemand darf in ihren Körper eingreifen. Da antworte ich, dann lass auch den in Ruhe, der sich umbringen will! Warum mischt du dich in die Dinge desjenigen ein, der sich von der Brücke stürzen will? Soll er doch sein Recht gebrauchen, soll er sich doch von der Brücke stürzen. Meint ihr so einen Quatsch wirklich ernst?«

 

Das Verbot legaler Abtreibung zwingt die betroffenen Frauen, illegale Lösungen zu suchen

 

Der genaue Inhalt des Abtreibungsgesetzes, das, so Gesundheitsminister Akdağ, bis zum 1. Juli vorgelegt werden soll, ist noch unklar. So blieb bislang offen, ob auch Abtreibung nach Vergewaltigung illegalisiert werden soll. Akdağ regte bereits an, nach dem Austragen des Kindes bräuchte sich die vergewaltigte Frau auch nicht weiter darum zu kümmern – das würde dann der Staat übernehmen. 

 

Gegen die Äußerungen des Ministerpräsidenten regte sich heftiger Widerstand. Oppositionspolitikerin Aylin Nazliaka bezeichnete Erdoğan als »Vagina-Wächter«. In Istanbul und vielen weiteren Städten kam es am Wochenende zu von Frauenrechtsverbänden organisierten Demonstrationen. Und auch Amnesty International warnt: Das Verbot legaler Abtreibung zwingt die betroffenen Frauen, illegale Lösungen zu suchen, die Leben und Gesundheit stark gefährden. Die Türkei ist Unterzeichner zahlreicher internationaler Abkommen, die den Frauen das Recht zugestehen zu entscheiden, ob, wann und wie oft sie Mutter werden.

 

Erdoğan hält seinen Kritikern die Verteidigung »nationaler Werte« entgegen. Allerdings werden aus dem Islam von der Mehrzahl der Gelehrten relativ abtreibungsfreundliche Regelungen hergeleitet, menschliches Leben, so die überwiegende Haltung, beginnt erst im 4. Monat. Es scheint dem Premier weniger um religiöse Werte als um nationale Stärke durch Bevölkerungswachstum zu gehen.

 

»Ich bin als Premierminister für jede Angelegenheit zuständig, ich kümmere mich um alles!«

 

So stellte Erdoğan sich auch gegen Geburt durch Kaiserschnitt. »Sehen Sie, ich sage nichts gegen einige medizinische Ausnahmen. Aber das sind 5 oder 10 Prozent. In den privaten Kliniken jedoch werden 90 Prozent, selbst wenn es im Durchschnitt nur 50 Prozent der Kinder sind, per Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Und der Kaiserschnitt ist nichts anderes, als die Entwicklung unserer nationalen Bevölkerung zu behindern. Das sage ich ganz offen: Warum soll man nicht mehr als zwei Kinder haben? Mit den Kaiserschnitt können Sie aber nicht mehr als zwei Kinder bekommen. Einige Leute ohne Anstand sagen: Warum kümmert sich der Premierminister um solche Dinge? Ich bin als Premierminister für jede Angelegenheit zuständig, ich kümmere mich um alles!«

 

Bereits 2008 und 2010 hatte Erdoğan an die türkischen Frauen appelliert, mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen, um auch in Zukunft die wirtschaftliche und militärische Stärke des Landes zu gewährleisten. Für Nordzypern regte er vor kurzem 4 Kinder pro Frau an –   Der  Verdacht liegt nahe, der  Premier wolle den Konflikt auf »naturliche Weise« lösen.

 

Zwar wächst die türkische Bevölkerung jährlich um 1,35 Prozent und ist damit den anderen europäischen Ländern weit voraus. Allerdings zeigte eine Umfrage des Statistischen Instituts der Türkei im letzten Jahr auch, dass immer weniger Frauen sich in erster Linie als Mutter sehen beziehungsweise die Kinderplanung aus Karrieregründen nach hinten verschieben. Die Geburtenrate ist inzwischen auf durchschnittliche 2,1 Kinder pro Frau gesunken. Das ist besonders in der gut entwickelten Marmararegion der Fall, im Südosten und Osten des Landes hingegen sieht die Lage (noch) anders aus.

Von: 
Charlotte Joppien

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