Was bleibt, wenn alle schuldig sind? Najem Wali versucht sich an der Entgrenzung der Gewalt im Irak. »Bagdad Marlboro« steht in einer Reihe mit den großen Kriegsromanen der Literaturgeschichte.
Soldaten, die in ihren Kasernen Dostojewski lesen, im Schützengraben Gedichte von Walt Whitman rezitieren und gemeinsam Zigaretten rauchen – wenn Najem Wali in seinem fulminant bedrückenden Roman »Bagdad Marlboro« erzählt, wie aus Kameradschaft Freundschaft wird, dann spielt er ganz bewusst mit den Motiven der europäischen Literatur über den Ersten Weltkrieg – den Krieg, der sämtlichen Illusionen über Soldatenehre und Anstand ein Ende machte, nur um den Weg zu bereiten für einen noch grausameren Krieg.
Angefangen beim irakisch-iranischen Krieg, versucht der 1956 in Basra geborene Wali die fortschreitende Entgrenzung der Gewalt in seiner Heimat zumindest mit den Mitteln der Literatur begreifbar zu machen. Dass ihm das nicht gelingt, hat rein gar nichts mit dem schriftstellerischen Können Walis zu tun; es ist vielmehr das Ausmaß der Brutalität, das jede Beschreibung als Versuch enden lassen muss. Ohne plumpe Schuldzuweisungen legt Wali dar, wie die Verrohung der Sitten im Irak sowohl durch den Einmarsch der Amerikaner 2003 als auch durch ihren Rückzug acht Jahre später beschleunigt wurde.
»Unsere Realität ist dermaßen bizarr, dass Sie mit jedem beliebigen Steinwurf eine Person, eine Geschichte träfen«, lässt Wali seinen Erzähler sagen. »Leider fehlt mir nicht nur das Schreibtalent, sondern all die Geschichten, Katastrophen und Ereignisse, all das Morden und die Zerstörung, die sich vor mir abspielen, ließen mir die Lust vergehen, sie zu erzählen.« Damit kokettiert Wali ein wenig. Aber es schimmert doch immer wieder durch, dass der 1980 nach Deutschland geflohene Autor viel lieber verworrene Liebesgeschichten schreiben würde. Aber auch die Liebe wird durch den Krieg korrumpiert.
Den Ich-Erzähler überkommen Schuldgefühle, nachdem seine Exfrau Ashâr durch Bomben der US-Luftwaffe getötet wird. Doch im Vergleich zu dem, was die anderen beiden Protagonisten erlebt haben, erscheint diese Tragödie harmlos. »Bagdad Marlboro« spiegelt die Geschichten des Irakers Salman Mâdi und des Amerikaners Daniel Brooks. Mâdi ist ein Dichter. Im irakisch-iranischen Krieg dient er als Soldat in einer Einheit, die Esel auf Minenfelder schickt. Im Krieg um Kuwait wird er erneut einberufen und schreibt in einem Heft die Träume seiner Kameraden auf: Wünsche für die Zeit nach dem Krieg, die sie alle nicht erleben sollen. Daniel Brooks ist als Soldat lange in Saudi-Arabien stationiert.
Auf diversen Militärbasen ist er für Ausrüstung und Versorgung zuständig. Die Kollegen schätzen seine freundliche Art und sein logistisches Talent. Beide, sowohl Brooks als auch Mâdi, werden im Krieg zu Mördern; mehr noch, sadistische Vorgesetzte zwingen sie, kaum beschreibbare Kriegsverbrechen zu begehen. In Walis labyrinthischer Romanstruktur mit immer neuen Wendungen und Spiegelungen mischen sich arabische Erzähltraditionen mit postmodernen Stilelementen auf das Vortrefflichste. In welchem der vielen irakischen Kriege der vergangenen 30 Jahre bestimmte Passagen des Buches sich abspielen, ist für den Leser oft schwer zu durchschauen – es entsteht der Eindruck eines Kriegs, der weder Anfang noch Ende hat.
Erich Maria Remarque schrieb 1929 im Vorwort zu »Im Westen nichts Neues«, dass es sein Ziel sei, »über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam«. Genauso zerstört die Gewalt in »Bagdad Marlboro«, und hier sogar generationsübergreifend. Ein Entkommen gibt es nicht, weder für Soldaten noch für die zufälligen Opfer von Entführungen und Anschlägen nach dem Sturz Saddam Husseins. Den Diktator namentlich zu nennen, vermeidet Wali tunlichst. Fast schon liebevoll versetzt er ihm dagegen literarische Fußtritte: »Du Henkersknecht, geh doch in dein Kaff zurück. Wir jagen dich zum Teufel und schmeißen dich aus Amt und Würden.«
Immer wieder ruft der Dichter Salman Mâdi im Buch diesen Spruch aus, etwa wenn er sich mit dem Ich-Erzähler betrinkt, um seine Depressionen zu ersticken. Die Bagdader Kneipe, in der sich beide mit alten Kriegskameraden treffen, heißt Al-Gunun, »der Irrsinn«. Dabei ist sie einer der wenigen Orte im Roman, die einen Hauch von Normalität versprühen. Mâdi und auch der amerikanische Soldat Daniel Brooks, die beiden Kriegsverbrecher wider Willen, suchen nach Läuterung. Durch die wiederkehrende Gewalt werden sie aber immer wieder auf ihre Traumata zurückgeworfen. »War es unser Schicksal in diesem elenden Land, dass man zwischen den Fronten nicht mehr unterscheiden konnte? War es unser Schicksal, ständig, auch gegen unseren Willen zu kämpfen?«
Auch der Ich-Erzähler wird mit der Entscheidung konfrontiert, entweder zu morden oder ermordet zu werden. Und doch beschreibt Wali einen Ausweg; einen Weg, der mit Mut und Haltung zu tun hat und mit schriftstellerischer Fantasie. Seinen Roman widmet er Bradley Manning, der als US-Soldat durch die Weitergabe geheimer Dokumente an Wikileaks die Vergehen seiner Armee, vor allem aber ihren brutalen Zynismus offenbart hat. Manning, der inzwischen den weiblichen Vornamen Chelsea angenommen hat, wurde von einem Militärgericht in Fort Meade wegen Geheimnisverrat zu 35 Jahren Haft verurteilt.
Ein hoher Preis, der es für Wali aber wert ist: Wenngleich die Kategorie der individuellen Schuld in einer von Gewalt vergifteten Gesellschaft verschwimmt, dann muss es doch möglich bleiben, Verantwortlichkeiten zu benennen, die Giftmischer bloßzustellen, gerade wenn sie hohe Posten besetzen, im Irak, in den USA oder anderswo. Und was für Manning & Co. das Aufdecken ist, ist für Schriftsteller das Aufschreiben. Es darf nicht vergeblich sein, die Träume unbekannter Soldaten zu notieren, dem Krieg mit Poesie zu begegnen und Verbrechen von Armeen und Offizieren aufzudecken – es ist nur eine kleine Hoffnung, nicht viel mehr als ein Strohhalm, die uns dieser düstere Roman als Trost hinterlässt. »Bagdad Marlboro« belegt: Solange es begnadete Geschichtenerzähler wie Najem Wali gibt, bleibt diese Hoffnung am Leben.
Bagdad Marlboro
Ein Roman für Bradley Manning
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
Carl Hanser Verlag, 2014
350 Seiten, 21,90 Euro