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Nach dem Mord am Oppositionellen Mohamed Brahmi

Wahlurne gegen Straße

Analyse

Nach dem Mord am Oppositionellen Mohamed Brahmi droht die gesellschaftliche Spaltung den Übergang in Tunesien gefährden. Drei Gruppen stehen sich im Machtkampf gegenüber – und die Situation ist nur bedingt mit Ägypten vergleichbar.

Der Mord an Mohamed Brahmi am 25. Juli 2013, fünf Monate nach dem tödlichen Attentat auf Chokri Belaïd, hat das Land durch seine Brutalität und seine Symbolik erschüttert: Am Tag der Gründung der Republik wurde der linke Abgeordnete der verfassungsgebenden Versammlung aus Sidi Bouzid, der Wiege der Revolution, vor den Augen seiner Familie kaltblütig erschossen. Der Mord trifft Tunesien mitten in einem kritischen Stadium des Übergangs zur Demokratie.

 

So stand der erste Verfassungsentwurf kurz vor der Abstimmung, außerdem bereitete sich das Land auf die ersten demokratischen Wahlen eines Parlaments und eines Präsidenten vor. Zwar gibt sich die tunesische Regierung große Mühe, Fahndungsresultate zu präsentieren, doch der Zeitpunkt wirft viele Fragen auf, die die Regierung mit den bisher veröffentlichten Informationen nicht beantworten kann.

 

So ist noch immer nicht geklärt, wer die Auftraggeber der Attentate sind – denn nach den neuesten Erkenntnissen kann man davon ausgehen, dass es sich um dieselbe Tatwaffe, und somit wahrscheinlich um dieselben Attentäter handelt wie beim Mord an Chokri Belaïd. Welche Netzwerke stehen also hinter den Attentätern und haben zur erfolgreichen Ausführung des Plans beigetragen?

 

Eines steht schon jetzt fest: Der Plan der Attentäter, durch politische Morde die Karten des politischen Spiels neu zu mischen, Zwietracht zu säen und Verwirrung zu stiften, scheint aufzugehen. In der momentanen Lage ist der demokratische Prozess selbst in Gefahr und die Trennlinien der tunesischen Gesellschaft treten erneut offen zu Tage. Seit dem 25. Juli 2013 erlebt das Land ein Wiederaufflammen der Gewalt und der Repression durch die Polizei, der einige Demonstranten wie Mohamed Bel Mufti, ein junger Aktivist der »Volksfront« in Gafsa, zum Opfer gefallen sind. Drei verschiedene Lager stehen sich in einer politischen Sackgasse gegenüber und behindern eine Lösung.

 

Der Verfassungsentwurf liegt wieder auf Eis

 

Da sind zum einen die Verfechter der Wahllegitimität. Sie sehen sich in der Defensive, reden die Situation klein und ignorieren die meisten der drängenden Probleme und Forderungen des Volkes.  So rief Mustapha Ben Jaafar, der Sprecher der verfassungsgebenden Versammlung, die 65 Abgeordneten, die den Konvent verlassen haben, zur Rückkehr auf. In seiner Ansprache versicherte er, dass die Versammlung dann innerhalb von einer Woche einen Konsens zu einem ersten Verfassungsentwurf finden könne.

 

Die 65 Abgeordneten haben sich indes im Sammelbecken »Front der nationalen Rettung« zusammengefunden. Die Gruppe fordert die Einsetzung einer Übergangsregierung, die ein unabhängiges Komitee mit der Fertigstellung des Verfassungsentwurfes, dessen Bestätigung durch ein Referendum und der Vorbereitung der nächsten Wahlen beauftragt. Mitglieder der derzeitigen Regierung sollen nicht kandidieren dürfen.

 

Mehrere der zurückgetretenen Abgeordneten nahmen am Sitzstreik vor dem Gebäude der verfassungsgebenden Versammlung in Tunis teil, bei dem es nach der Beerdigung Mohamed Brahmis am Samstag zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnern und -anhängern gekommen war. 
Eine zweite Gruppe, die die Anhänger der revolutionären Ideale umfasst, verlangt die »Machtergreifung durch das Volk« – ohne allerdings eine wahre Alternative anzubieten, die einer Realitätsprüfung standhielte. Dazu gehört die Jugendbewegung »Tamarrod – Rebellion«, die seit einigen Wochen nach ägyptischem Vorbild versucht, die Regierung durch einen Volksaufstand zu vertreiben.

 

Die Politiker der Ennahda agieren geschickter als ihre Kollegen in Ägypten

 

Schließlich versucht die politische Opposition, die Gelegenheit beim Schopf zu packen um an die Macht zu kommen, in dem sie die Auflösung der politischen Institutionen fordert, die erst vor kurzem mit Mühe geschaffen worden sind. So präsentierte die »Volksfront«, deren Bündnis sowohl die Parteien Chokri Belaids als auch Mohamed Brahmis angehörten, am Nachmittag des Attentats eine Erklärung, in der sie den Rücktritt der Regierung, die Auflösung des Verfassungskonvents, die Schaffung einer Übergangsregierung forderten undzu zivilem Ungehorsam und Generalstreik am Tag der Beerdigung aufriefen.

 

Auch Ägypten erlebt in diesen Tagen heftige Zusammenstöße zwischen Anhängern von Ex-Präsident Mursi und Unterstützern von General Sisi. Und doch ist die Lage in Tunesien nur bedingt mit der Krise am Nil vergleichbar. Die Armee etwa nimmt am politischen Geschehen nur am Rande teil. Dies hat auch damit zu tun, dass die tunesische Armee im Gegensatz zur ägyptischen kein Wirtschaftsimperium unterhält, und damit auch vergleichsweise wenig eigene politische Interessen verfolgt.

 

Außerdem agieren die Politiker der Ennahda geschickter als ihre Kollegen in Ägypten. Wohl auch unter Eindruck der Eskalation am Nil hat sich die Partei dazu durchgerungen, einen Schritt auf die Opposition zuzugehen. So kündigte Ministerpräsident Ali Larayedh an, am 17. Dezember 2013 Neuwahlen durchzuführen – einen vorzeitigen Rücktritt der Regierung schloss er indes aus. Wird dadurch die Konfrontation zwischen der Legitimität der Wahlurne und der Straße aufgelöst? Lassen sich die Tunesier auf der Straße bis Dezember vertrösten? Die nächsten Tage und Wochen werden es zeigen.

Von: 
Johanne Kübler

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