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Militärkonfrontation im Irak

Irakisches Roulette

Analyse

Bagdad und Erbil leisteten sich im November zehn Tage Militärkonfrontation und Krisenmanagement. Die rote Linie wurde nicht überschritten, doch im Streit um Grenzen und Einfluss im Irak sind die Fronten verhärtet.

Vom 16. bis zum 26. November standen sich Einheiten der irakischen Armee und Soldaten der kurdischen Peshmerga in der nordirakischen Provinz Kirkuk feindlich gegenüber. Dabei kam es zu Feuerwechseln mit einem Toten und mehreren Verletzten. Nach Verhandlungen der militärischen Stellen konnte eine weitere Eskalation der Lage schließlich entschärft und ein beidseitiger Rückzug vereinbart werden.

 

Zurzeit suchen die Verantwortlichen in Bagdad und Erbil nach politischen Konsequenzen. Die Ursache für die bislang dramatischste Konfrontation zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Kurdischen Autonomen Region (KAR) liegt in dem langjährigen Streit über die Grenzen der Provinzen Niniveh, Salahuddin, Kirkuk und Diyala. So fordert die KAR, dass kurdische Siedlungsgebiete in diesen Provinzen ihrer Verwaltung unterstellt werden sollten.

 

Diesen Anspruch untermauert sie seit 2003 mit einer de facto Kontrolle von Teilen dieser Landstriche durch ihre Peshmerga-Milizen. Dagegen beharrt Bagdad auf den Status-Quo der Provinzgrenzen und hält die Position aufrecht, in den umstrittenen Gebieten über weitreichende Kontrollrechte zu verfügen. Diese versuchte der irakische Premierminister vergangenen Monat geltend zu machen.

 

Am 1. November gab Nuri al-Maliki die Bildung eines neuen militärischen Wehrkreises für die Provinzen Salahuddin, Kirkuk und Diyala bekannt. Damit einher ging die Entsendung von Einheiten der irakischen Armee. Auf die sofort einsetzenden kurdischen Proteste ging Maliki nicht ein. Die Armee, erklärte der Premierminister provokativ, müsse sich »auf jedem Zentimeter des irakischen Bodens« frei bewegen dürfen.

 

Im Parlament sprachen kurdische Politiker dem Regierungschef daraufhin das Recht ab, allein über die Bildung neuer Militärkommandos zu entscheiden. Tatsächlich hat sich der Premier mit seinem Alleingang über die Verfassung hinweggesetzt. Doch seine persönliche Kontrolle über die Streitkräfte hat Maliki bereits über Jahre aufgebaut. Als inmitten der Debatte Gerüchte über eine Verstärkung der kurdischen Militärpräsenz in Kirkuk aufkamen, warnte der Premierminister die Peshmerga-Soldaten direkt, sich von den Regierungstruppen fernzuhalten und eine Provokation zu vermeiden.

 

Die Kraftprobe in Kirkuk versetzte auch die US-Regierung in Aufruhr

 

Am 16. November kam es in der Stadt Tuz Khurmatu in der Provinz Kirkuk dennoch zu einem Scharmützel zwischen Angehörigen der irakischen Armee und kurdischen Sicherheitskräften. Dabei wurde eine Person getötet und 18 Menschen verletzt. Die kurdische Führung versetzte daraufhin die Peshmerga in höchste Alarmbereitschaft und verstärkte ihre Präsenz in Kirkuk mit Panzereinheiten.

 

Das irakische Militär verlegte seinerseits zusätzliche Truppen in die Provinz und sperrte die Verbindungsstraßen zwischen Bagdad und Erbil. Die Konfrontation in Kirkuk versetzte auch die US-Regierung in Aufruhr, die erst Ende letzten Jahres ihre Friedenstruppen aus den umstrittenen Gebieten zurückgezogen hatte. So informierte Vizepräsident Joe Biden den irakischen Premierminister darüber, dass Gefechte mit der Peshmerga eine rote Linie seien, die eine amerikanische Militärintervention auslösen würden.

 

Gleichzeitig nutzte die US-Regierung ihren Einfluss in der KAR, um die Verantwortlichen von einer Verschärfung des Konflikts abzubringen. Dort hatten einflussreiche Stimmen zuvor demonstrativ Kampfbereitschaft demonstriert. Im Parlament stellten sich alle Parteien angesichts der äußeren Bedrohung hinter die Regierung. Aus dem Verteidigungsausschuss der KAR ließ ein Mitglied verlautbaren, je schneller ein Krieg komme, desto besser sei es.

 

Am 26. November gelang es schließlich, die Krise zu entschärfen. Unter Vermittlung von US-General Robert Caslen erklärten sich Offiziere der irakischen Armee und der Peshmerga prinzipiell dazu bereit, ihre Soldaten zurückzuziehen und Differenzen in gemeinsamen Koordinationskomitees zu besprechen. Am 28. November einigten sich beide Seiten darauf, alle Truppen, die vor dem 16. November in die Region geschickt worden waren, wieder abzuziehen.

 

Seither wird über eine Lösung für die Truppenstationierung in den Grenzgebieten verhandelt. Hierbei tat sich vor allem der irakische Parlamentspräsident Osama al-Nujaifi als Vermittler hervor. Mittels Shuttle-Diplomatie zwischen Bagdad und Erbil entwickelte er den Kompromissvorschlag, in den strittigen Gebieten lokale Bürgerwehren zu bilden, die vor Ort als Sicherheitskräfte agieren könnten. Daneben wird aber auch die Einrichtung einer gemeinsamen Kontrolle durch Armee und Peshmerga diskutiert.

 

Maliki wird weitere Konfrontationen in Kauf nehmen

 

Dass die militärische Konfrontation in Kirkuk, wie bereits zuvor im Juli 2012 in Niniveh und im September 2008 in Diyala, mit einer Übereinkunft erfolgreich beigelegt werden konnte, zeigt die prinzipielle Bereitschaft der Kontrahenten, den Konflikt nicht eskalieren zu lassen. So verkündete auch KAR-Präsident Barzani, die Peshmerga würden in einem Krieg »nicht die erste Kugel abfeuern«. Premierminister Maliki betonte seinerseits, ein Bürgerkrieg werde nicht ausbrechen, denn die Iraker seien in Gefahrensituationen »bewusst und vereint«.

 

Da der Interessenkonflikt zwischen dem wachsenden Herrschaftsanspruch der Zentralregierung in den Provinzen und den dortigen expansiven Territorialwünschen der KAR aber weiterhin ungelöst bleibt, ist der Wert solcher Bekundungen fraglich. Allein eine Einigung über die Zugehörigkeit der umstrittenen Grenzgebiete könnte dauerhafte Stabilität schaffen.

 

Diese ist jedoch nicht in Sicht. Vielmehr ist seit mehreren Jahren zu beobachten, dass Nuri al-Maliki den Konflikt politisch anfeuert, um die arabische Bevölkerung im »nationalen« Widerstand gegen die KAR hinter sich zu vereinen. Mit seinem provokanten Vorgehen im November beweist der Premier erneut seine Bereitschaft, mit dem Feuer zu spielen. Angesichts des glimpflichen Ausgangs der aktuellen Krise und bevorstehenden Wahlen im nächsten Jahr erscheint es denkbar, dass Maliki weitere Konfrontationen durchaus in Kauf nehmen könnte. An der explosiven kurdisch-arabischen Frontlinie gleicht dies jedoch einem »irakischen Roulette«.

Von: 
Hauke Feickert

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