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Kopf hinhalten oder Kopf in den Sand stecken?

Kopf hinhalten oder Kopf in den Sand stecken?

Essay

Müssen sich Deutschlands Muslime nach den Anschlägen von Paris zum Verhältnis von Gewalt und Religion positionieren? Eine Distanzierung macht nur wenig Sinn, eine Auseinandersetzung um die Auslegung des Islam umso mehr, meint Raida Chbib.

Man könnte es einen Reflex nennen. Reizauslöser sind Meldungen, in denen es um Gewaltakte geht. Stoßgebete, dass nicht gleich wieder vom islamistischem Hintergrund der Täter die Sprache ist. Die Gewissheit, dass es dennoch so sein wird. In der Eilmeldung zu den Anschlägen von Paris war dies wieder der Fall. Eine Mischung aus Ratlosigkeit und Wut, die sich in vielfacher und in sichtbarer Weise unter Deutschlands Muslimen entlädt: In Mahnwachen, in Stellungnahmen, in Hashtags, in Facebook-Diskussionen und in Kundgebungen.

 

Je mehr die Anschläge als ein symbolischer Angriff auf »Grundprinzipen der westlichen modernen Welt, auf Pressefreiheit und Meinungsfreiheit« projektiert werden, desto größer lastet der Druck auf hier lebende Muslime. Inmitten einer Konfrontation mit Pegida-Demonstranten, die das Abendland vor ihrer Präsenz schützen wollen, wirkt dies auf viele wie ein Erwachen von einem bösen Traum in einem Albtraum. Auf einen simplen Nenner gebracht, fragt sich: Den Kopf hinhalten oder Kopf in den Sand stecken?

 

Soll man sich den Schuh anziehen lassen, dem Islam sei Gewalt inhärent oder wie Christoph Schwennicke im Magazin Cicero sagt: »Die Beschwichtiger behaupten, dass die Terroranschläge von Paris nichts mit dem Islam zu tun haben. Wie bitte? Im Namen keiner anderen Religion wurden in den vergangenen Jahren derart barbarische Taten begangen.« Weniger sarkastisch aber entschieden fordert Michael Martens in der FAZ: Muslimische Verbände müssten sich fragen, wieso ihre Religion so viele Terroristen hervorbringt.

 

Die Frage nach den Ursachen für Extremismus in den Reihen der Muslime wird längst von Muslimen gestellt und diskutiert, und zwar bereits vor den Anschlägen in Paris. Beispielsweise fand in Hamburg jüngst eine länger geplante Tagung seitens der muslimischen Verbände zum Thema statt. Der Titel: »Extremismus als islamische und gesellschaftliche Herausforderung«. Doch obwohl sich Muslime dieser Frage durchaus stellen, sehen es viele unter ihnen nicht ein, warum sie sich von den Untaten der Terroristen distanzieren sollen, nur weil diese muslimischen Glaubens sind.

 

Muslime wollen sich nicht distanzieren müssen

 

»Ich verstehe diese Stimmen gut«, erklärt die junge Juristin Betül Ulusoy die Distanzierungsabwehr von Muslimen: »Wenn man sich von etwas distanziert, muss man sich zunächst zu der Gruppe, von der man sich abgrenzen möchte, zugehörig fühlen. Man muss eine Verbindung zwischen sich und ihnen herstellen. Sonst macht das Ganze von vornherein keinen Sinn. Nur, in diesem Fall ist diese Gruppe gerade eine terroristische Vereinigung. Wenn von mir also gefordert wird, ich solle mich von ihr distanzieren, so wird mir gleichzeitig unterstellt, ich wäre auch ein Teil eben jener Terrorgruppe. Das ist ziemlich verletzend. Und gleichzeitig von der Wahrheit so weit entfernt, wie der Neptun zur Sonne. Verständlicherweise verwehrt man sich dann derartigen Forderungen.«

 

Wie das Dilemma aber zu lösen ist, das Phänomen des Fanatismus und Terrorismus im Kontext der eigenen Glaubensanhänger aufzugreifen und in seinen Ursachen zu diskutieren ohne »den Islam« dafür verantwortlich zu machen, bleibt unklar. Die Professorin Katajun Amirpur bringt es auf den Punkt: »Wenn die Attentäter meinen, der Islam rechtfertige ihre Tat, dann reicht es nicht zu sagen: Der Islam rechtfertigt den Terror nicht.« Esra Küçük, die Leiterin der Jungen Islamkonferenz, wird deutlicher: »Dadurch, dass Extremisten sich auf den Islam berufen, alleine deshalb hat der Islam schon ein Problem.«

 

Hat Terror unter Berufung auf den Islam etwas mit dem Islam zu tun?

 

Das sieht man an den Instituten für Islamische Theologie in Münster und in Frankfurt am Main ähnlich. Muhannad Khorchide, Urheber einer »Theologie der Barmherzigkeit«, ist die Unbarmherzigkeit einiger Deutungsweisen durchaus bewusst. »Apologetische Sätze«, wie dass die Anschläge nichts mit dem Islam zu tun hätten, weist er von sich. »Denn die Extremisten berufen sich schließlich auf kein anderes Buch als auf den Koran. Es gibt innerhalb der islamischen Theologie eine Bandbreite an Positionen – von friedlichen, menschenfreundlichen bis hin zu menschenverachtenden, gewalttätigen Haltungen.«

 

Deshalb hält er eine »kritische Auseinandersetzung mit den Teilen der islamischen Tradition, die längst überholt sind« seitens der islamischen Theologie für nötig. Seine Kollegen vom Institut für islamische Studien in Frankfurt (ZIT) sehen es laut einer Stellungnahme ähnlich: »Gerade als muslimische Theologen, Historiker und Sozialforscher sind wir im Moment mehr als andere aufgefordert, menschenverachtende Argumentationen in den ideologisierten Deutungen und Lesarten der islamischen Religion als existent wahrzunehmen, die Ursachen und Formen ihrer Entstehung zu begreifen, die Bezüge auf die islamischen Lehren darin aufzudecken und vor allem islamische Antworten darauf zu geben.«

 

Warnung vor gesellschaftlicher Fragmentierung und Polarisierung

 

Dennoch erscheint es angesichts der aktuellen Zuspitzung gesellschaftlich polarisierender Aktivitäten infolge der massenhaften Aufmärsche von Pegida und der Attentate von Paris mit anschließenden Angriffen auf Moscheen umso dringender, diese Phänomene nicht nur in ihrer religiösen, auf den Islam beschränkten, Dimension, sondern auch in ihren sozialen und globalpolitischen Ursachen zu betrachten und gesamtgesellschaftlich anzugehen.

 

Bekim Agayi, Direktor des Frankfurter ZIT, hofft, dass »wirklich nach den Ursachen gesellschaftlicher Fragmentierung gefragt wird«. Diese Reflexion scheint gegenwärtig besonders nötig zu sein und lässt hoffen, dass im Zuge dessen nicht isoliert auf das islamische Spektrum geblickt wird. Auf eine solche Ursachenanalyse warten Vertreter muslimischer Verbände nicht, sondern gehen praktisch vor, indem sie versuchen, gemeinsam mit anderen einer weiteren gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.

 

So haben sich beispielsweise Vertreter der drei abrahamitischen Religionen über ein Manifest gemeinsam gegen eine Pervertierung von Religion gewandt: »Im Namen Gottes darf nicht getötet werden«, heißt es von Seiten der Vertreter von katholischer und evangelischer Kirchen, von Juden und Muslimen. »Bibel, Thora und Koran sind Bücher der Liebe, nicht des Hasses.«

 

Gemeinsame Kundgebungen für eine freiheitliche, tolerante Gesellschaft

 

Einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz verfolgt auch der Aufruf von Muslimen aus religiösen und nicht-religiösen Organisationen zu einer Kundgebung für ein »Weltoffenes und tolerantes Deutschland und für Meinungs- und Religionsfreiheit« am Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor, dem sich zahlreiche Vertreter aus Religion, Zivilgesellschaft und ranghohe Vertreter der Politik am 13. Januar angeschlossen haben. Hier erteilte man gemeinsam Rassisten, Scharfmachern und Brandstiftern jeglicher Couleur eine Absage.

 

Dieses Zeichen ist wichtig und lässt hoffen. Damit stehen Muslime mit ihrer Mahnung vor einer weiteren gesellschaftlichen Spaltung nicht alleine da. Darin zeigt sich auch, dass die Aufrichtigkeit, mit der sie sich gegen radikale Brandstifter und Terroristen in den eigenen Reihen wenden, indem sie den gesellschaftlichen Schulterschluss suchen, ernst genommen wird.

 

Die medial aufgegriffenen Reaktionen muslimischer Verbandsvertreter und Theologen bringen zwar nur einen Ausschnitt der Betroffenheit von Muslimen hierzulande zutage, die sich aber auch in teilöffentlichen und privaten Diskussionen ähnlich widerspiegeln. Insgesamt zeigt sich, dass Muslime sich weder ducken noch zaudern, sondern äußerst betroffen und besorgt sind. Sie teilen die Sorge wachsender terroristischer Umtriebe mit anderen und sind derselben Gefahr ausgesetzt, sind jedoch darüber hinaus weitgehender betroffen als andere.

 

Einerseits befürchten sie eine weitere Pervertierung ihrer Religion durch muslimische Verbrecher und die Diskreditierung des Islam und islamischer Religionsausübung. Andererseits rechnen sie mit offener und latenter Diskriminierung, mit wachsenden Anfeindungen und alltäglichen Übergriffen. Ihre Imame zeigen den Widerspruch der Terrorakte mit ihren islamischen Vorstellungen auf, indem sie an den friedfertigen Umgang des Propheten Muhammad mit Beleidigungen, in Freitagspredigten und über das Teilen von Predigten in sozialen Medien erinnern.

 

So wird von Muslimen der Penzberger Imam Benjamin Idriz zitiert, der an die Souveränität Gottes erinnert: »Die Religion lehrt, dass Gott größer ist – arabisch: Allahu akbar –, als alle menschlichen Unzulänglichkeiten. Und sein Prophet hat niemals nötig, dass aufgeregte Menschen meinen, ihn für irgendetwas ›rächen‹ zu müssen – denen es in Wirklichkeit um ihr eigenes verletztes Ego geht anstatt um Religion.« Zugleich stellen Muslime kritische Fragen, wie etwa, warum mit der Causa Breivig anders umgegangen wurde, nämlich ohne seinen Glauben dafür in Sippenhaft zu nehmen?

 

Warum sei wieder allzu schnell und nur aufgrund von Indizien von islamistischen Anschlägen die Rede gewesen? Warum stelle man die Frage nach der Motivation der Täter nur mit Blick auf den Islam und nicht kritisch und umfassend? Warum werde der Akt so stark politisch-symbolisch aufgeladen und primär als Anschlag auf westliche Werte diskutiert? Warum komme einem solch schlimmen Verbrechen in Paris eine enorme Aufmerksamkeit zu, während weitaus verheerendere Massaker, wie in Nigeria mit 2.000 Toten und Anschläge, wie am selben Tag im Jemen außer Acht blieben?

 

Manchen ist das alles schlichtweg zuviel. Sie sind verwirrt. Eine Schülerin fragt ihre Mutter, was das »Abendland« denn sei, eine Mutter postet »Je suis ratlos« und eine weitere junge Frau berichtet von einem verbalen Angriff, dem sie beim Einkaufen ausgesetzt wurde, als ihr eine Frau schimpfend vorhält, sie solle sich gefälligst dafür schämen, was sie in Paris getan hätten. Dennoch vermag sie dies als Einzelfall verorten, der sich deutlich von den Erfahrungen unterscheidet, die sie sonst macht.

 

Die Furcht vor Nachahmern bleibt bei allen groß und scheint nicht zuletzt nahe liegend, da nicht etwa die Tat selbst, sondern der große Effekt, der im Nachhinein über die mediale und politische Aufbereitung erzeugt wurde, den terroristischen Einzellern Mut machen wird. Deutliche Worte seitens muslimischer Vertreter, Imame, Prediger und Multiplikatoren, dass solche Gewaltakte und darauf beruhende Denkweisen keinen Platz im Islam hätten und den Glauben pervertieren, senden wichtige Signale aus und ermutigen einfache Muslime dazu, sich klar dagegen zu positionieren. Sie sind keinesfalls als Ausdruck von Ignoranz, sondern als Ausgangspunkt für eine weitere gesellschaftliche Verschränkung und die Bekämpfung radikaler Ansätze anzusehen und geben Orientierung in der Krise.


Raida Chbib ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam der Goethe-Universität in Frankfurt/Main.

Von: 
Raida Chbib

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