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Kleine und große Akteure im Syrien-Konflikt

Eingreifen unmöglich

Analyse
von Huda Zein

Kleine und große Akteure mischen militärisch – direkt oder indirekt – in Syrien mit. Ergebnis: eine unkontrollierte Eskalation der Gewalt. Eine Militärintervention würde dasselbe Resultat bringen – nur schlimmer, meint Huda Zein.

Der revolutionäre Widerstand in Syrien gegen das Assad-Regime dauert nun schon länger als ein Jahr. Die Proteste in Syrien werden bislang nicht von allen gesellschaftlichen Schichten getragen; er kommt überwiegend von sozial schwächeren Schichten, wird aber auch von Intellektuellen getragen. Die syrische Opposition ist gespalten zwischen Anhängern des bewaffneten und des gewaltfreien Widerstands. Am stärksten in internationalen Medien präsent ist der Syrische Nationalrat (SNC), der in Istanbul seinen Hauptsitz hat und mittlerweile eine Militärintervention fordert. Der zweite große Oppositionsblock ist das Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (NCC), das seinen Hauptsitz in Syrien hat. Das Nationale Koordinationskomitee lehnt vehement jegliche ausländische militärische Intervention in Syrien ab. Mittlerweile haben sich außerdem zahlreiche weitere zerstrittene Oppositionsgruppen gebildet. Es wird eine der größten Aufgaben der Opposition sein, in Zukunft eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.

 

Problematisch ist auch, dass mittlerweile auf syrischem Boden auch bewaffnete Aufständische mitmischen, die zu ausländischen extremen islamistischen Organisationen gehören: so wie die Hizb at-tahrir (»Partei der Befreiung«), die libanesische »Fatah al-Islam«, eine sunnitische radikal-islamische Untergrundorganisation, Jund as-Scham (»Soldaten Syriens«) und andere. Sie kommen teilweise aus Saudi-Arabien, Libyen, Libanon, Irak und Pakistan.

 

Das Assad-Regime reagiert auf Forderungen nach mehr politischer Partizipation und auf jegliche Opposition mit militärischer Gewalt. Die Revolution in Syrien kostete bisher nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mindestens 11.000 Menschen das Leben und es wurden zehntausende festgenommen. Mord, Grausamkeit, Folter, Vertreibung und Erniedrigung sind der hohe Preis für den syrischen Widerstand. Diese Tötungen und die übermäßige Gewalt, die es in Ägypten und Tunesien in dieser Form nicht gegeben hat, machen es der syrischen Bevölkerung schwer, sich gegen staatliche Willkür zu stellen. Und machen es auch schwer, sich zu weigern, bei der Gewalt des Regimes mitzumachen.

 

Baschar al-Assad spielt mit ähnlichen Karten wie sein Vater

 

Im Laufe des syrischen Widerstands entwickelten sich verschiedene bewaffnete Gruppen, die Selbstverteidigung zum Ziel hatten und haben. Das macht die Lage kompliziert. Denn Gewalt entfaltet immer eine Eigendynamik. Im Lauf des syrischen Aufstands eskalierte die Gewalt im Land und es kam vermehrt zu militärischen Auseinandersetzungen: Zwischen der nur lose organisierten und leicht bewaffneten Freien Syrischen Armee und regulären Armeeeinheiten.

 

Die internationale Gemeinschaft reagierte unterschiedlich: Die Großmächte und die regionalen »Mitspieler« vertreten keine einheitlichen Interessen. Nationale, regionale und internationale Interessen sind eng miteinander verflochten. Als geostrategisch zentrales Land, das an Israel, Libanon, Jordanien, Türkei und Irak grenzt, besitzt Syrien eine große Bedeutung. Schon Hafiz al-Assad nutzte diese geostrategische Bedeutung des Landes im Höchstmaß aus. Er garantierte sich sowjetische Militär- und Wirtschaftsunterstützung und gewann den Iran als einen starken Verbündeten. Damit hängt der Einfluss Syriens im Nachbarland Libanon zusammen: Die Hizbullah im Libanon wird von Syrien und dem Iran mit Geld und Waffen im Kampf gegen Israel unterstützt.

 

Baschar al-Assad spielt mit ähnlichen Karten wie sein Vater. Deshalb wird Syrien zunehmend auch zum Schauplatz der Kollision unterschiedlicher globaler Interessen: einerseits Interessen der USA und Russlands, andererseits auch Interessen von Saudi-Arabien und Iran. Saudi-Arabien und Iran tragen einen Kampf um Regionalmacht aus, der sich auch anhand konfessioneller Bruchlinien zeigt: Die Förderung eines saudischen, streng wahhabitischen Islam-Verständnisses versus einer von Saudi-Arabien befürchteten schiitische Achse von Iran, Irak und Bahrain über Syrien bis in den Libanon.

 

Man könnte es als sarkastische Tragik bezeichnen, dass gerade Saudi-Arabien und Katar als autoritäre Monarchien, die in vieler Hinsicht viel repressiver als die anderen arabischen Regime sind, zur Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten in Syrien aufrufen. Keiner der beiden Staaten zeichnet sich durch eine demokratische oder gar auf Menschenrechte achtende Politik aus, und beide konkurrieren um die Vormachtstellung in der Region. Offiziell kündigten Saudi-Arabien und Katar beim Treffen der »Freunde Syriens« im April an, dass sie die Freie Syrische Armee finanziell, materiell und mit Waffen unterstützen werden und wiederholten ihre Forderung nach einer militärischen Intervention.

 

Mittlerweile ist es nicht mehr zu verbergen, dass sich mehrere hunderte salafistische Kämpfer aus Saudi-Arabien, Libyen, Irak und Libanon nach Syrien eingeschleust haben. Das heißt: Saudi-Arabien instrumentalisiert die Lage in Syrien und schürt ganz bewusst die Gewalt dort, um das schiitisch-alawitische Assad-Regime zu stürzen und damit auch den schiitischen Iran zu schwächen und sich selbst als Regionalmacht zu etablieren.

 

Diese partikularen Profitinteressen, die Hegemonialansprüche der Großmächte und Regionalstaaten, die geostrategische Bedeutung Syriens und das effiziente, geschickte Machtspiel von Assad, das die syrische Regierung heute immer noch spielt, rufen die Einmischung vieler Akteure in der Region hervor. Eine Art Stellvertreterkrieg findet da statt, der sich nicht im Geringsten an dem syrischen Desaster stört und das eigentliche Ziel der syrischen Revolution, Freiheit und Würde zu erlangen, völlig außer Acht lässt. 

 

Alle Mitspieler stehen vor der Alternative, entweder den von Kofi Annan entworfenen Plan, der auf einem Interessenausgleich beruht, zu unterstützen, oder aber ihre konkurrierenden Interessen auf dem Schauplatz Syrien auszutragen. Aus meiner Sicht würden im letzten Fall das Land Syrien und die syrische Bevölkerung die größten Verlierer sein.   

 

Die größte Gefahr ist der Kollaps staatlicher Strukturen und der Zusammenbruch von Recht und Ordnung

 

Das Grundprinzip des UN-Völkerrechts ist der Grundsatz der Staatensouveränität, nach dem die Staaten grundsätzlich keinem anderen Staat untergeordnet sind. Sie unterliegen nur dem Völkerrecht. Doch Souveränität ist als Verantwortung zu verstehen. Ein Staat muss Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung übernehmen, um als souverän zu gelten. Das ziemlich neue Konzept der »Schutzverantwortung« ist aus dem Konzept des Völkerrechts zum Schutze des Menschen seit 2001 entwickelt worden. Die Schutzverantwortung dient demnach dafür, allgemein gültige Moralvorstellungen bei jedem einzelnen Staat durchzusetzen. Darunter fällt der Schutz der eigenen Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

 

Das Völkerrecht wird also von zwei polar orientierten Imperativen hervorgebracht: Es gibt einerseits das Recht der Bevölkerung gegen den Staat, wenn dieser für sie zur Bedrohung wird. Andererseits gibt es die Souveränität der Staaten. Das heißt, dass es einen Ermessens- und Interpretationsspielraum gibt, wann ein Eingreifen gerechtfertigt ist.

 

Das nun bezogen auf Syrien bedeutet: Es gibt viele Anzeichen dafür, dass in Syrien Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Daher ist die Frage der internationalen Schutzverantwortung in Syrien berechtigt. Allerdings muss die Intervention in erster Linie das Ende des menschlichen Leidens bezwecken. Die Konsequenzen des militärischen Eingreifens dürfen auch nicht nachteiliger sein als die Folgen eines Nichteingreifens. In Libyen sind laut Presse- und Agenturmeldungen mehr als 50.000 Menschen ums Leben gekommen und viele mehr verletzt worden. Einige Städte wie Sirte wurden fast vollständig zerstört. Neben aller Art von militärischen Zielen bombardierte die Nato nicht nur Militäranlagen – wie angegeben –, sondern laut einigen Berichten auch städtische Wohngebiete, Dörfer und zivile Infrastruktur.

 

Interventionen – ebenso deren Unterlassung – laufen immer Gefahr, das partikulare Machtinteresse der intervenierenden Staaten vor das Interesse der betroffenen Bevölkerung zu stellen. Das galt für Ruanda, Somalia, Bahrain ebenso wie für Libyen, und das wird auch für Syrien gelten. In Libyen wurde bereits nach einem Monat Aufstand eine UN-Resolution zum Eingreifen erlassen. Doch im Fall Syriens kam noch nicht einmal eine UN-Resolution zustande, die Syrien verurteilte. Obwohl klar ist, dass eine Million Syrer dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.

 

Eine durch den UN-Sicherheitsrat legitimierte militärische Intervention scheint momentan, abgesehen vom russischen und chinesischen Veto, unwahrscheinlich. Eine solche Intervention ist aus meiner Sicht auch nicht erfolgversprechend. Denn historisch und analytisch gesehen kann eine militärische Intervention in Syrien aus folgenden drei Gründen nur Nachteile haben.

 

Ein militärisches Eingreifen wird den Konflikt in Syrien verschärfen. Die größte und typische Gefahr einer solcher Intervention ist der Kollaps der staatlichen Strukturen und der Zusammenbruch von Recht und Ordnung. Die syrische Gesellschaft ist ethnisch und konfessionell stark fragmentiert. Diese Heterogenität der Gesellschaft wird nach meiner Einschätzung zu einem Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen, da es leicht zu ethnischen und konfessionellen Verfolgungen, Racheakten und Vertreibungen kommen kann – um nicht zu sagen ethnischen Säuberungen. Das kann keine Option für Syrien sein. 

 

Der Krieg in Syrien wird ein Krieg aller gegen alle

 

Folgen der Intervention sind aus meiner Sicht auch massive Bewegungen von Flüchtlingen und intern Vertriebenen. Durch die Zerstörung der Infrastruktur und die fehlende öffentliche Sicherheit kann es zu einer Bürgerkriegsökonomie kommen, die Angestellte, Arbeiter, Bauern und Intellektuelle marginalisiert und zur Bildung krimineller Strukturen führt. Durch die fehlende Sicherheit werden einheimische und ausländische Investoren wenig Interesse bekunden, die Infrastruktur des Landes wieder aufzubauen und kohärente soziale Strukturen zu etablieren.

 

Außerdem ist die Gefahr groß, dass sich der Konflikt auf die Nachbarstaaten ausdehnen kann. Wie bereits erläutert, mischen in Syrien auf Grund der geostrategischen Lage verschiedene politische Player mit unterschiedlichen Interessen mit.

 

Die Lage in Syrien lässt sich nicht mit der in Libyen vergleichen. Syrien hat, anders als Libyen und Irak, schwergewichtige Freunde, nämlich Russland, China, Iran und die libanesische Hizbullah. Die syrische Armee hat schon ohne Reserve über 300.000 Soldaten, verfügt über reichlich Panzerfahrzeuge und Panzerabwehrwaffen, und besitzt effektive Abschreckungswaffen bis hin zu chemischen Kampfstoffen. Die syrische Luftabwehr ist weitaus effektiver als die libysche. Unter anderem versorgte Moskau das Regime in Damaskus bis 2011 mit Flugabwehrsystemen und Seezielflugkörpern. Es wäre fatal, wenn auf Grund einer militärischen Intervention in Syrien die Lage in Libanon, der Türkei und Iran eskaliert, und so auch die Sicherheit Israels bedroht ist. Es stellt sich die Frage, ob die Hizbullah im Fall einer Intervention in Syrien mit einem Angriff auf Israel drohen würde oder Israel tatsächlich angreifen würde. Oder ob Syrien selbst nach der Politik der verbrannten Erde Israel angreifen würde.

 

Aus meiner Sicht wird eine militärische Intervention in Syrien zu neuen Kämpfen und zu neuem Leid für die syrische Bevölkerung führen. Sie wird diejenigen, die sich für gewaltfreien Kampf und Menschenrechte einsetzen, schwächen. Statt einer militärischen Intervention sind andere Mittel noch nicht ausreichend ausgeschöpft, zum Beispiel Versuche der humanitären Hilfe, der Sanktionen und der Diplomatie. Das schließt verstärkte und ernsthafte Anstrengungen für die Schaffung friedlicher Alternativen ein, so wie internationale Gespräche mit allen Konflikt- und Interessenparteien sowie mit allen Oppositionskoalitionen.

 

Die syrische Opposition benötigt direkte und effiziente diplomatische, finanzielle und friedlich-logistische Unterstützung. Denn eine Umwälzung der alten Verhältnisse kann nur durch eigene innere Kräfte erreicht werden. Dringend muss sowohl die Arabische Liga als auch die internationale Gemeinschaft den Kontakt zu allen Gruppen der syrischen Opposition suchen und eine vermittelnde und einigende Rolle spielen. Sie müssen Verhandlungen und nationalen Dialog für die Einleitung einer Übergangsphase vorbereiten. Es muss für alle klar sein, dass es keine Zukunft mit dem Assad-Regime geben kann. Das gilt auch für die externen Player, Russland, USA, und andere. Die NATO sollte umgehend den heimlichen Export westlicher und saudischer Waffen nach Syrien unterbinden.

 

Warum geht die internationale Gemeinschaft so selektiv mit den arabischen Umbrüchen um? Warum gab es grünes Licht für die saudi-arabische und emiratische militärische Intervention in Bahrain, warum für ein militärisches Eingreifen im Falle Libyens und warum die apathisch schweigende Haltung gegenüber Jemen? Und letztendlich: Warum wird eine dermaßen schwankende und zögernde Politik gegenüber Syrien betrieben, wo manche Staaten manchmal so aggressiv wirken, als wollten sie selbst einmarschieren und Assad stürzen, und dann wieder ganz kleinlaut abwarten?

 

Die vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Beobachtermission für Syrien braucht von allen Seiten praktische Unterstützung. Das Land darf nicht im Blutbad eines von äußeren Interessen angeheizten Stellvertreterkrieges versinken. Denn der Krieg in Syrien wird ein Krieg aller gegen alle, ein Krieg der Interessen statt des gerechten Kampfes zwischen der syrischen Bevölkerung und dem Assad-Regime.


Huda Zein studierte in Damaskus Soziologie und in Freiburg Philosophie und Islamwissenschaft und promovierte in Freiburg im Fach Soziologie. Seit 2008 arbeitet sie als Lektorin für Arabisch am CNMS der Philipps-Universität in Marburg.
Von: 
Huda Zein

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