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Jordanien und die Flucht aus Syrien

Willkommen in der Wüste

Feature

In den nächsten Tagen wird die Zahl der syrischen Flüchtlinge die Drei-Millionen-Marke erreichen. Während die Augen der Welt auf Irak und Syrien gerichtet sind, ringt Jordanien mit den Folgen des Exodus – und ist am Ende seiner Kapazitäten.

Hundert Kilometer östlich von Amman wächst mitten in der Wüste eines der größten Flüchtlingscamps der Welt heran: 10.000 Blechhütten, von Asphaltstraßen in Blocks unterteilt, dazwischen die Moschee, ein Supermarkt und am Hügel die Polizeistation. Bis zu 100.000 Menschen sollen einmal im Camp Azraq leben. Die 11.000, die seit April hier Zuflucht fanden, kommen aus allen Teilen Syriens. Seit einigen Wochen vermehrt aus der Region um Raqqa, der vom »Islamischen Staat« (IS) kontrollierten Stadt am Euphrat.

 

Als die Familie des 14-jährigen Hassan in Jordanien ankam, besaß sie nichts mehr. Das letzte Geld bekam der Schlepper: 350 Euro für die 5-köpfige Familie. »Für Kinder, die jünger als zwölf Jahre sind, nahm er kein Geld«, sagt Hassan. Seine Mutter Hawara sitzt im schmalen Schatten eines Blechhauses, das Baby am Arm. Die Großmutter hockt still daneben, wischt sich Tränen mit einem Zipfel ihres Kopftuchs weg. Der Ehemann sei irgendwo im Camp unterwegs. Die Familie kommt aus Huriya, einem Dorf bei Raqqa. Das Gebiet ist Teil des Kalifats, das IS im Juni ausgerufen hat.

 

Irgendwann bombardierten die Jets des Assad-Regimes das Dorf, eine Explosion riss Teile ihres Hauses weg. »Vor einem Monat flüchteten wir«, sagt Hawara. Vor drei Tagen kamen sie im Camp an. Warum sie geflohen sind? »Wir hatten nichts mehr zu essen«, sagt Hassan. Und dann waren da die Kämpfer des IS, die ihm Angst machten: »Wenn du nicht wie sie bist, schneiden sie dir den Kopf ab.«

 

Flucht vor den Islamisten und Assads Truppen

 

Auf der anderen Straßenseite sitzt Jumaa in seiner Hütte. Eine weiße Plastikplane ersetzt den Teppich, an der Wand zwei Matratzen. Seine Frau bereitet Tee am Gaskocher zu. Auch sie kommen aus der Provinz Raqqa, auch sie mussten einen Schlepper bezahlen, damit er sie zur Grenze brachte. »Es gab keinen Regen, die Ernte ist vertrocknet«, sagt Jumaa. IS sorge für Ordnung, den Zivilisten täten sie nichts an. Er sagt, dass viele Leute das Gebiet um Raqqa verlassen. Weil sie Angst vor IS haben? Das wisse er nicht. »Mir hat IS nichts getan, daher spreche ich nicht gegen sie.«  

 

Das Camp in der Wüste ist eine logistische Herausforderung. Verwaltet wird es von der jordanischen Regierung und dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR. »Täglich bringen Tankwägen Wasser aus 40 Kilometer entfernten Brunnen hierher«, sagt Bernadette Castel-Hollingsworth, die den UNHCR-Einsatz leitet. »Strom ins Lager zu bringen, hat oberste Priorität«, sagt sie. Ohne Strom gibt es keine Telefone und kein Internet und somit keine Nachrichten von außerhalb des Lagers. An den Solarlampen können zwar einfache Handys aufgeladen werden, für Smartphones seien sie aber zu schwach. Sie plane außerdem informelle Märkte zu errichten, an denen die Menschen Zugang zu Tee- und Kaffeeläden, Friseuren und kleinen Geschäften hätten. Solar-Straßenlampen gehen demnächst in Betrieb.

 

Zu tun gebe es einiges: »Wir brauchen Zeit und Finanzierung.« Abu Ali und seine Familie wohnen in einer Tiefgarage in Amman. In einer Parknische hängt frisch gewaschene Babykleidung. Im fensterlosen Raum dahinter, ein Sofa, einige Matratzen, Kissen und ein Ventilator. Hinter der Trennwand die improvisierte Dusche und ein Gaskocher. Der 35-Jährige kommt aus Ghouta, einem Vorort südlich von Damaskus. Anderthalb Jahre kämpfte er in der Freien Syrischen Armee (FSA) gegen Assads Soldaten und Einheiten der Hizbullah.

 

Freunde von ihm starben durch Giftgaseinsatz. Im Januar 2013 entschloss er sich zur Flucht. Nur zehn Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatten, schlug eine Rakete ein. Die FSA brachte sie mit einem Auto zum Grenzübergang Jabir. Kostenlos, sagt er. »Jeder, der behauptet, die FSA verlange Geld, um Menschen zur Grenze zu bringen, ist ein Lügner.«

 

Abu Ali und seine Familie ließen sich in Amman registrieren. Jedes Familienmitglied bekommt pro Monat Essenscoupons im Wert von 21 Euro. Auch die Behandlung beim Arzt sei kostenlos. Seine Kinder besuchen die Schule, an der wegen der hohen Schülerzahlen in zwei Schichten unterrichtet wird. »Morgens die Jordanier, am Nachmittag die Syrer«, sagt er. In den nächsten Tagen muss er mit seiner Familie wieder zum UNHCR – die Registrierung muss jährlich erneuert werden. Eine Arbeitsgenehmigung hat Abu Ali nicht.

 

Dennoch jobbt er als Garagenwächter. »Von den Coupons alleine könnten wir nicht leben.« 200 Jordanische Dinar bekommt er im Monat, umgerechnet 213 Euro. Beim Autowaschen und Putzen in Appartements verdient er sich Extra-Geld. Für den fensterlosen Raum bezahlt er nichts. Alle seine Freunde und Verwandten seien noch in Damaskus, sagt er. »Ich fühle mich schuldig, die FSA verlassen zu haben. Aber ich muss mich um meine Kinder kümmern.«

 

»Jordanien wird nervös«

 

»85 Prozent der Flüchtlinge leben außerhalb der Camps«, sagt die UNHCR-Mitarbeiterin im Hauptquartier der Hilfsorganisation in Amman. »Um humanitäre Hilfe zu bekommen, müssen sie sich hier registrieren lassen.« Von 610.000 registrierten syrischen Flüchtlingen spricht UNHCR. Zählt man die nicht registrierten hinzu, seien es zwei Millionen, sagt die jordanische Regierung. »Hinzu kommen etwa 30.000 Iraker, Somalis und Sudanesen.« Zwischen 50 und 75 Prozent der Bevölkerung seien Palästinenser, Flüchtlinge aus den israelisch-arabischen Kriegen, die geblieben sind.

 

»Die Angst, dass nun auch die Syrer auf Dauer bleiben könnten, ist groß«, sagt McDonnell. Je länger die Situation andauert, desto größer werden die Spannungen im 6-Millionen-Land. Die Schulen sind überfüllt, in manchen werde in drei Schichten unterrichtet. Der Wasserbedarf sei enorm gestiegen, ein Problem für eines der trockensten Länder der Welt. Die Jugendarbeitslosigkeit unter Jordaniern ist hoch, deshalb erteile die Regierung nur sehr zögerlich Arbeitsgenehmigungen an Syrer. »Jordanien wird nervös«, sagt McDonnell. Das Land ist umgeben von Kriegs- und Krisengebieten, in denen Millionen auf der Flucht sind.

 

»Die Regierung will keine offenen Grenzen wie in der Türkei, sie will wissen, wer im Land ist.« Die Grenzübergänge bei Ramtha und Mafraq sind für Flüchtlinge geschlossen, daher bleibt ihnen nur der Weg durch die Syrische Wüste. Das Grenzgebiet dort sei militärische Sperrzone. »Jeder, der reinkommt, wird von den Soldaten kontrolliert.« »Was wir hier sehen, ist keine syrische Krise«, sagt McDonnell. Es betreffe die gesamte Region und könne sich zu einer globalen Krise auswachsen. Jordanien tut was es kann, aber es brauche weitere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. »Nicht zu helfen, wäre Wahnsinn.«

Von: 
Markus Schauta

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