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Israels Außenminister Avigdor Lieberman

Yvette, das Kraftwerk

Portrait

Die Kommunalwahlen in Jerusalem sind grotesk, an Undurchsichtigkeit kaum zu übertreffen und ein Lehrstück darüber, wie israelische Politik funktioniert. Mittendrin, statt nur dabei: Avigdor Lieberman.

Seine Freunde nennen den Bartträger »Yvette« und er ist für seine Brechstangenrhetorik bekannt – die Rede ist natürlich von Avigdor Lieberman, der, ob seiner Querelen mit der israelischen Justiz, weiter munter im Jerusalemer Politbetrieb mitmischt. Der neuste Coup des Vorsitzenden der nationalistisch-säkularen Partei »Israel Beitenu«: Er ist eine unheilige Allianz mit Arieh Deri, seines Zeichens Frontmann der orthodox-sephardischen Schas-Partei, eingegangen, um die kommende Woche stattfindenden Kommunalwahlen in Jerusalem gehörig aufzumischen.

 

Bereits im Spätsommer hatte Lieberman erklärt, die Stadtsteuer »Arnona« in der heiligen Stadt sei so hoch, wie jene in Manhattan, der von der Kommune dafür offerierte Service (Müllabfuhr etc.) gleiche hingegen jenem in Damaskus. Harter Tobak, der mittlerweile auf Plakaten in der ganzen Stadt zu lesen und ein unverhohlener Seitenhieb auf Nir Barkat ist, dem seit 2008 regierenden Bürgermeister der Stadt. Lieberman und Deri wollen Barkat daran hindern, wiedergewählt zu werden – und haben einen anderen Kandidaten aufgestellt: Mosche Lion. Aber der Reihe nach.

 

»Jerusalem ist in den Herzen von drei Milliarden Menschen«

 

Nir Barkat regiert seit 2008 die altehrwürdige Stadt, in der er Zeit seines Lebens wohnt. Der Familienvater dreier Töchter war Fallschirmjäger im Libanonkrieg und hat nach seinem Informatik- und BWL-Studium die richtige Idee gehabt. In den 1980er-Jahren entwickelte er eine Anti-Virus-Software, es folgten weitere Firmen – heute ist er nach Angaben des Magazins Forbes Israel Milliardär und der reichste Politiker im Land.

 

Zwar gilt der säkulare Sohn eines bekannten emeritierten Physikprofessors als aussichtsreichster Kandidat bei den kommenden Wahlen, aber er ist weit davon entfernt, ein zweiter Teddy Kollek zu sein oder zu werden. Die arabische Bevölkerung der Stadt verweigert sich aus unterschiedlichen Gründen fast in Gänze der Wahl; in Sur Baher, Jabal Mukhaber oder Umm Tuba wird man kein Wahlplakat finden, in jenen Gegenden also, die Barkat einst als »Wilder Osten« bezeichnet hatte.

 

Und dann gibt es die alteingesessenen jüdischen Bewohner, die befürchten, aus dem beschaulichen Jerusalem mit seiner gewaltigen Historie werde schlussendlich ein großer Bibelthemenpark à la Disneyland; Barkat ist ein großer Fan von biblischen Attraktionen, die er als Touristenmagneten betrachtet. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er gegenüber der New York Times gesagt: »Jerusalem ist in den Herzen von drei Milliarden Menschen, aber nur zwei Millionen kommen jährlich.«

 

Mit seiner Infrastrukturinitiative und Omnipräsenz gilt Barkat unter den Verbliebenen säkularen Bewohnern dennoch als einzige realistische Wahlalternative. Denn sie wissen: Nur mit vereinten Kräften kann ein weiteres Mal ein säkularer, wenngleich konservativer, Mann wir Barkat gewählt werden, der auch inoffiziell die Rückendeckung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat.

 

Hamlet in Jerusalem

 

Es könnte das letzte Mal sein. Die Übermacht der Religiösen in der Stadt ist schlicht unübersehbar. Jüngstes Beispiel: Bei der Beerdigungsprozession Ovadia Josefs, dem spiritus rector der Schas-Partei und ehemaligen sephardischen Oberrabbiner Israels, waren 800.000 Anhänger zugegen – das sind zehn Prozent der Gesamtbevölkerung zwischen Mittelmeer und Jordan, die binnen Stunden mobilisiert werden konnten.

 

Genau auf die setzt Arieh Deri, der nach dem Tod Josefs nunmehr mit allen Insignien der Macht die Schas-Partei lenkt, bis ein neuer geistlicher Führer vom Rat der Tora-Weisen gefunden worden ist. Zumal er, Deri, seinen ewigen innerparteilichen Rivalen Eli Jischai endgültig abgehängt zu haben scheint. Letzterer scheint sich in der Rolle des »Prinzen von Dänemark« zu gefallen und sieht in Deri – um bei Shakespeares Hamlet zu bleiben – den bösen Onkel.

 

Zumindest lässt Jischai Deri seit Tagen durch eigene Anhänger öffentlich so attackieren. Deri und Lieberman, dieses eigentümliche Duo, will nun die sephardisch-orthodoxe Wählerschaft und die säkularen Einwanderer aus den GUS-Staaten für Mosche Lion votieren lassen. Der schwergewichtige Protegé Liebermans kommt selbst nicht aus Jerusalem, sondern aus dem Mittelmeerstädtchen Givat Jam. Doch Lion scheint nicht mehr als ein Spielball in einem viel größeren Kampf zu sein – dem um die nationale Regierung.

 

Nir Barkat hatte in einem Fernsehinterview erklärt, Lieberman habe versucht Benjamin Netanjahu dazu zu bringen ebenfalls öffentlich Lion zu unterstützen, ansonsten werde er, Lieberman, das gemeinsame Wahlbündnis aus Likud und Israel Beitenu aufkünden. Kommentatoren und Analysten schrieben ebenfalls über den Verdacht. Jerusalem ist somit – wieder einmal – zum Ort der politischen Kabale geworden.

 

Und die aschkenasisch geprägte ultra-orthodoxe Gemeinschaft, die ebenfalls stark gespalten ist, wurde hierbei noch nicht einmal erwähnt; gegenwärtig gibt es neben der größten Partei – »Vereinigtes Tora-Judentum« – auch die »Bnei Tora«-Bewegung, die sich von der nicht-hassidischen »Degel ha-Tora« abgespalten hat, der wiederum die altehrwürdige »Agudat Jisrael« angehört. Vor allem die litauische Gemeinschaft befindet sich nach dem Tod ihres Rabbiners im vergangenen Jahr in einer großen Umbruchphase.

 

In all diesem Durcheinander steht Avigdor Lieberman und zieht die Strippen. Gewiss, nach gegenwärtigen Umfragen wird sein Kandidat Mosche Lion den Kürzeren ziehen, doch es geht eben nicht nur um Jerusalem, sondern auch um die nationale Regierung. Es geht um das große Spiel, das Kräftemessen zwischen Lieberman, Deri und Netanjahu. Es geht um Täuschung, Einschüchterung, Macht – Politik. Zuweilen sieht es so aus, als sei Lieberman der gewiefteste der drei gegenwärtig einflussreichsten Politiker in Israel. Ausgerechnet er, der international kein hohes Ansehen genießt. Dafür hatte er von Anfang an selbst gesorgt.

 

Kraftzentrum und Hinterzimmerstratege

 

»Wenn du Frieden willst, dann rüste zum Krieg«, zitierte Avigdor Lieberman den römischen Kriegstheoretiker Vegetius im März 2009 öffentlich. Und das bei seiner Amtseinführung als neuer Außenminister. Seither gefällt sich der ehemalige Kofferträger und Türsteher als Antipode des Westens – ob aktiv oder passiv im Amt. Auch in Israel selbst ist der verheiratete Vater von drei Kindern umstritten. Dorthin war er 1978 als 20-Jähriger aus Moldawien eingewandert.

 

Kurz nach seiner Ankunft beginnt er Politikwissenschaften in Jerusalem zu studieren, engagiert sich beim Studentenverband des konservativen Likud und zieht 1988 mit seiner Familie in die jüdische Siedlung Nokdim im Westjordanland. Im gleichen Jahr lernt er Benjamin Netanjahu kennen, seinen Türöffner für die höheren Kreise. Von 1993 bis 1996 ist er Generalsekretär des Likud und später Minister für nationale Infrastruktur sowie Transportminister.

 

1999 gründet er seine eigene Partei: Jisrael Beitenu. Ein weiteres Mosaik in Liebermans Bilderbuchkarriere. Kurze Zeit später sitzt er im Kabinett von Ehud Olmert, dessen Regierungskoalition er 2007 aus Protest gegen die Friedensverhandlungen von Annapolis verlässt. Viele Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion goutieren seinen anti-arabischen Kurs. So sehr, dass Israel Beitenu zur drittstärksten Partei in Israel avanciert und Avigdor Lieberman Außenminister wurde.

 

Ein Außenminister, der für eine weltpolitische Neuorientierung plädiert – weg vom Westen, den USA und der EU, hin zu China und Russland. Auch die jüngsten Parlamentswahlen hatte er im Zusammenschluss mit Benjamin Netanjahus Likud erfolgreich gemeistert – und ist bekanntlich seither dennoch nicht in Regierungsverantwortung, der Premier vertritt Lieberman kommissarisch im Amt als Außenminister, schließlich hat der jede Menge Ärger mit der Justiz. Seit Jahren wird gegen ihn wegen des Verdachts auf Korruption, Betrug, Geldwäsche und Untreue ermittelt.

 

Auf den Punkt gebracht: Dass es Avigdor Lieberman dennoch geschafft hat, mit Mosche Lion einen ernsthaften Kandidaten aufzustellen und Netanjahu seit Monaten das eigene Amt führen zu lassen – und somit weiterhin als politisches Alphatier in Jerusalem de facto mitzuregieren – gleicht einem Wunder. Der umstrittene Vollblutpolitiker hat seinen Seneca während des Studiums offenbar verinnerlicht und lebt seither dessen Zeilen: Philosophia non in verbis, sed in rebus est

Von: 
Dominik Peters

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