Lesezeit: 9 Minuten
Israelische Kriminologin Anat Berko

»Frauen machen keine Karriere im Terrorismus«

Interview

Wie wird eine Frau zur Selbstmordattentäterin? Die israelische Kriminologin Anat Berko über Tee mit Terroristinnen, Patriarchen und Familienehre – und warum Striptease in den Himmel führt.

zenith: Wie aktuell ist Ihr 2012 erschienenes Buch in Anbetracht der Tatsache, dass der letzte Selbstmordanschlag von einer Frau in Israel 2008 verübt wurde?

Anat Berko: Mein Buch behandelt die kriminologische und psychologische Seite des Phänomens, dass Frauen und Kinder als Selbstmordattentäter eingesetzt werden. Ich beziehe mich im Allgemeinen auf Terror, an dem Frauen beteiligt sind. Es geht nicht nur um Anschläge in Israel, sondern um das Potenzial von Frauen als Täterinnen. Man sieht das überall um uns herum, wie in Afghanistan, Irak, Pakistan oder Jordanien.

 

Sie haben palästinensische Frauen, die sich an terroristischen Aktivitäten beteiligt haben, über fünf Jahre lang im Gefängnis interviewt. Was waren das für Frauen?

Sie kamen aus allen Schichten, vermutlich am häufigsten aus der Mittelklasse. Ich fand keine Hinweise darauf, dass ihre Aktivität in Verbindung zu Bildung oder Armut stand. Aber generell waren die Frauen besser gebildet als die Männer.

 

Wie verliefen Ihre Gespräche mit den Gefangenen?

Wir haben viel Tee getrunken, gelacht und manchmal haben die Terroristinnen mich sogar umarmt. Manche kannte ich jahrelang, für sie war ich mehr als eine Forscherin.


Anat Berko

wurde 2002 über Selbstmordattentäter an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan promoviert und arbeitet am »Institute for Counter-Terrorism« in Herzliya. Ihre Familie wanderte aus dem Irak nach Israel ein, daher spricht Berko fließend Arabisch. 2012 erschien ihr zweites Buch »The Smarter Bomb: Women and Children as Suicide Bombers«.

 

 
Warum beteiligen sich Frauen an Terroranschlägen?

Wir Frauen denken gerne, das sei ein Akt von Emanzipation oder eine feministische Revolution. Aber eigentlich ist es das Gegenteil. Natürlich sagen die Frauen, dass sie es aus ideologischen Gründen taten, aus Rache an der israelischen Besatzung. Aber wenn man an der Oberfläche kratzt, dann findet man heraus, dass andere Gründe dahinter stehen.

 

Welche Gründe sind das?

Meist sind es familiäre Probleme. Ich traf viele Frauen, die unter Inzest in ihren Clans litten oder auch gezwungen wurden, einen Fremden zu heiraten. Ist der Ruf einer Frau beschädigt, dann ist die Familienehre beschmutzt. Selbst Gerüchte über ihre sexuelle Aktivität reichen aus, damit Frauen getötet werden. Diese Probleme zwingen die Frau zu einer drastischen Tat, um die Familienehre wiederherzustellen – oder aber dem patriarchalischen Haushalt komplett den Rücken zu kehren. Manche Frauen kamen zu Checkpoints, um Soldaten anzugreifen, um ihr Zuhause verlassen zu können.

 

In Ihrem Buch beschreiben Sie aber auch, wie Frauen von den Islamisten ausgenutzt werden.

Eine der Inhaftierten erzählte mir, dass sie vor dem Anschlag nach ihren Ersparnissen gefragt wurde, weil sie diese im Paradies nicht brauchen würde. Andere Frauen wurden sexuell missbraucht, bevor sie zu ihrem Auftrag geschickt wurden. Das Anlegen des Sprengstoffgürtels ist eine intime Situation. Einige Frauen wurden dabei von den Männern unsittlich berührt.

 

Sie denken also, dass die Frauen nicht merken, dass sie von diesen Männern ausgenutzt werden?

Die Frauen denken tatsächlich, dass die Tat ein Ausweg ist. Doch sie werden nur ausgenutzt, sogar mehr noch als die Männer. Das Geld, das die Organisationen den Hinterbliebenen zahlen, ist weniger für Familien von Attentäterinnen. Niemand erkennt ihre Tat an, so wie es bei Männern üblich ist. Ich traf Scheich Ahmad Yassin, den Gründer der Hamas. Er sagte, Frauen hätten ein besonderes Potenzial und das sei, Kinder zu gebären. Sie sollten sich nicht um militärische Angelegenheiten kümmern.

 

2004 erklärte Yassin nach dem Attentat von Reem Riyashi, der ersten Selbstmordattentäterin der Hamas, dass auch Frauen Anschläge durchführen dürften. Wie erklären Sie sich das?

Die Hamas beauftragte Reem Riyashi, einige Monate bevor Scheich Yassin von den Israelis getötet wurde. Er drohte Israel, dass seine Organisation das Land mit weiblichen Attentätern überfluten würde.

 

Werden Frauen also aus ideologischen oder strategischen Gründen von der Hamas eingesetzt?

Frauen sind sehr einflussreiche Waffen. Sie erzielen eine hohe mediale Aufmerksamkeit – und das ist das Ziel von Terror. Zudem ist es leichter, eine Frau durch die Checkpoints zu schicken. Die Hamas wusste das. Frauen werden nicht so streng kontrolliert wie Männer.

 

»Eine Terroristin ist keine Feministin«

 

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich die Attentäterinnen am Tag des Anschlags betont freizügig anzogen. Diese Beobachtung nennen Sie in ihrem Buch »Striptease for Bombing«.

Sie kleiden sich so, wie sie es von westlichen Frauen vermuten – um nicht aufzufallen.

 

Wie unterscheiden sich weibliche sonst von männlichen Tätern?

Für Frauen gibt es keine Karriere im Terrorismus.

 

Wie meinen Sie das?

Die Frauen wachsen im Gegensatz zu den Männern oft nicht in der Terrororganisation auf. Manchmal gehören sie nicht mal einer Organisation an. Eine Frau, die das Haus verlässt, ist eine beschädigte Frau, denn sie entzieht sich der Kontrolle durch den Vater oder den großen Bruder. Die Männer hingegen sind tief in den Organisationen verankert und identifizieren sich mit ihnen.

 

Wie steht die palästinensische Gesellschaft, Ihrer Beobachtung nach, den Attentäterinnen gegenüber?

Wenn dein Bruder Märtyrer ist, dann kriegst du die Belohnung und die Anerkennung. Wenn deine Schwester hingegen eine Märtyrerin ist, dann vermutet man, dass sie etwas Unmoralisches getan hat, das sie dazu zwingt, den Namen der Familie zu reinigen.

 

»Islamisten verstehen es nicht und lehnen es ab, wenn eine Frau über Sex redet«

 

Das klingt so, als wäre die palästinensische Gesellschaft noch gänzlich von patriarchalischen Normen dominiert.

Über Sexualität wird in der palästinensischen Gesellschaft nicht gesprochen. Es gilt als Schande – selbst für Männer.

 

Vielleicht wurde nur mit Ihnen nicht darüber gesprochen, weil Sie, als israelische Kriminologin, Außenstehende sind?

Nein, sie sprachen mit mir darüber. Aber in ihrer Gesellschaft ist es ein Tabuthema.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Muna Amana hat den 15-jährigen Jungen Ofir Rahum aus Aschkelon mit sexuellen Versprechen in die Falle gelockt und von ihren Freunden töten lassen. Die Hamas war angeekelt von ihr. Sie verstehen es nicht und lehnen es ab, wenn eine Frau über Sex redet.

 

Wenn Sie die Frauen in einem anderen Kontext getroffen hätten, hätten Sie eine andere Beziehung zu ihnen gehabt?

In einem anderen Kontext hätte ich ihr Opfer sein können. Nach Abschluss meiner Forschung bin ich nicht mit den Frauen in Kontakt geblieben. Obwohl Manche mich darum baten. Ich sah die Frauen als Opfer. Attentäter sind nicht die besten Kinder ihrer Gesellschaften. Die Organisationen finden die verletzlichen, schwachen Menschen – sonst wären diese Personen keine Terroristen geworden.

Von: 
Mai-Britt Wulf

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