Lesezeit: 9 Minuten
Israel und der Arabische Frühling

Annäherung oder Isolation

Analyse

Der Arabische Frühling hat Israel vor die Frage gestellt, ob die Umbrüche Chancen zur Aussöhnung mit den Nachbarn bieten oder ob es sich weiter abschottet. Wie lange kann sich Jerusalem noch erlauben, eine Entscheidung auszusitzen?

Es ist die einzige wirkliche Gesetzmäßigkeit in den sonst so chaotischen internationalen Beziehungen: Demokratische Staaten führen keine Kriege untereinander. Die Theorie des demokratischen Friedens sorgte zunächst für Euphorie, als sie in den 1980er-Jahren endgültig empirisch belegt wurde. Das führte logischerweise zu der Frage: Können Staaten demokratisiert werden, um der weltpolitischen Anarchie beizukommen?

 

Nach zwei gescheiterten Kriegen in Afghanistan und im Irak lautet die Antwort: Nein, zumindest nicht mit Waffengewalt und unter Zwang. Der sanftere Weg ist jener der Einflussnahme. Demokratische Bewegungen und Oppositionelle unterstützen, finanzielle Hilfe gewährleisten, Diplomatie im klassischen Sinne also. Auch Israel hat sich mit zu viel Feuerkraft in den Nachbarstaaten schon die Finger verbrannt, insbesondere 1982 im Libanon.

 

Damals musste selbst der überzeugte Demokratieexporteur Shimon Peres auf außenpolitischen Realismus setzen und sich der Stabilität wegen mit den arabischen Despoten arrangieren. Deswegen steht als interventionistische Reaktion auf den Arabischen Frühling auch nur ein rücksichtsvolles Vorgehen zur Debatte. Neokonservative Alleingänge à la USA in den Bush Jr.-Jahren würden das kleine Land nur weiter in die Isolation treiben.

 

Umgeben von freundlich gesinnten liberalen Demokratien könnten sich die Israelis nach sieben Angriffen in sechs Jahrzehnten endlich in Sicherheit wähnen und die zuletzt etwas angeschlagene Wirtschaft weiter gedeihen. Handel mit den Nachbarstaaten würde für einen zusätzlichen Aufschwung sorgen und günstiges Öl die hohen Lebenshaltungskosten drücken. So sieht zumindest die Utopie aus. In der Praxis gestaltet sich der Weg dorthin doch sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

 

Die israelische Unterstützung würde jeden Akteur in der arabischen Welt als Verräter brandmarken und ließe sich somit nur im Geheimen realisieren. Außerdem sind Staaten wie vor allem Syrien derart von den Folgen der Aufstände gebeutelt, dass sich mit gut gemeinter Diplomatie dort im Moment nur wenig ausrichten lässt. Doch was ist die Alternative? Sollte Israel die Araber einfach sich selbst überlassen oder sich auf die Seite der wenig berechenbaren Oppositionen stellen?

 

Efraim Inbar, Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Begin-Sadat Zentrums für Strategische Studien, vertritt den momentan in Israel vorherrschenden, realistischen Denkansatz: »Die Araber werden über Jahrzehnte mit sich selbst beschäftigt sein, sie sind aktuell gar nicht in der Lage, eine konventionelle Armee einzusetzen«, beschreibt er die Konsequenzen des Arabischen Frühlings für Israel. Die Probleme im Inneren hätten außerdem zur Folge, dass sie »sich nicht für Palästina interessieren«.

 

Die Strategie des Nichtstuns ging bislang auch sehr gut auf und die schlimmsten Befürchtungen, dass die Region bald von Islamisten kontrolliert werden könnte, haben sich zunächst zerschlagen. In Syrien ist die Lage weiter unübersichtlich, dass der »Islamische Staat« dort seine Macht konsolidiert, ist aber höchst unwahrscheinlich. Auch im Irak eilen die USA und – ironischerweise –der Iran zu Hilfe, um die Radikalislamisten zurückzudrängen.

 

In Ägypten putschte das Militär Präsident Mursi aus dem Amt und setzte die Muslimbruderschaft auf die schwarze Liste und dürfte wohl die Dschihadisten-Zellen auf dem Sinai als größte sicherheitspolitische Herausforderung auf der Prioritätenliste führen. Wenn Jordanien und der Libanon nicht kollabieren, ist die unmittelbare Gefahr also erst einmal gebannt. »Wir können die Araber im Moment nicht beeinflussen«, sagt Inbar. Tiefgreifende Entscheidungen sollten zunächst vertagt werden, bis die Lage übersichtlicher ist.

 

Kleinere Maßnahmen auf institutioneller Ebene und Präventivschläge im Falle einer akuten Bedrohung wären somit der einzige Handlungsspielraum, den die Regierung aktuell hat. Außenpolitisch bleibt das wichtigste Thema eine mögliche atomare Bewaffnung des Iran, welche auch noch die sunnitischen Länder ins gleiche Boot mit Israel zwingen würde. Generell liegt die rote Linie zum militärischen Eingreifen bei der Proliferation inakzeptabler Waffen, also Massenvernichtungswaffen. Das betrifft vor allem auch die Hizbullah.

 

»Sich einer Einigung zwischen Israel, Palästina, Jordanien und Saudi-Arabien entgegenzustellen, wäre für die Hamas praktisch unmöglich«

 

Innenpolitisch ist die Lage ebenfalls stabil, aber nicht rosig. Dafür brach die Wirtschaft zuletzt etwas ein und bei den Parlamentswahlen im März – die zweiten innerhalb von zwei Jahren – könnte es ausnahmsweise um Senkung von Mieten und Nahrungspreisen gehen, anstatt um Sicherheitsthemen.

 

Dafür zerschellten die Raketen aus dem Gazastreifen vergangenen Sommer am »Iron Dome«, die jüngsten Anschläge per Messer oder Säure zeugen eher von Verzweiflung als vom Willen zur Revolution. Die vergleichsweise positive Entwicklung im Westjordanland spricht wohl eher gegen eine erneute Intifada. Mit hohen Mauern, Betonblöcken und Raketenabwehr hat sich Israel als Oase inmitten des Chaos zumindest kurzfristig abgesichert.

 

Die Islamisten im Rückzug, die Feinde untereinander zerstritten, Wohlstand und Stabilität im eigenen Land. Eine glänzende Ausgangsposition, aber was fängt Israel damit an? Sobald sich herauskristallisiert, wer in den Nachbarländern in den kommenden Jahren an der Macht ist, stehen auch in Jerusalem Entscheidungen an.

 

»Kurzfristig halte ich die abwartende Taktik definitiv für richtig«, sagt Amnon Aran von der City Universität London, »mittel- oder langfristig wird sie sich jedoch einigen Herausforderungen stellen müssen.« Der Dozent für Internationale Beziehungen vertritt einen pragmatischeren Ansatz, was Israels Strategie betrifft. »Der Verlust seiner Glaubwürdigkeit als Demokratie, die ungünstige demografische Entwicklung und nicht zuletzt die Erosion des internationalen Ansehens könnten auf lange Sicht einen Kurswechsel zur Folge haben«, erläutert er.

 

Dazu trage insbesondere auch die Entscheidung parlamentarischer Kammern in Schweden und Großbritannien bei, Palästina als Staat anzuerkennen. Dabei birgt der Arabische Frühling eigentlich ein riesiges Potential, dem Friedensprozess in der Region eine neue Richtung zu geben, besonders im Bezug auf Palästina. Es muss ja nicht gleich die ganze Region demokratisiert werden. »Dafür müssten die Verhandlungen jedoch in einer multi-, statt einer bilateralen Umgebung stattfinden.

 

Ein Ansatz, dem sich Israel traditionell verweigert, da es dort in der Minderheit ist«, fasst Amnon Aran die Schwierigkeiten einer Stärkung der palästinensischen Autonomie zusammen. »Sich einer Einigung zwischen Israel, Palästina, Jordanien und Saudi-Arabien entgegenzustellen, wäre für die Hamas aber praktisch unmöglich«, führt er den Reiz eines solchen Vorstoßes aus. Ein Abkommen müsste in Anbetracht der aktuellen Lage jedoch ohne die Syrer stattfinden, was natürlich wiederum Legitimität kostet.

 

Israels Regierung wird den Nahostkonflikt nicht ewig aussitzen können

 

Insgesamt scheint es, als wäre die Regierung Netanjahu mit der Strategie des Aussitzens aktuell am Besten beraten und sie lässt auch keine Zweifel daran aufkommen, dass sie, bis auf Feinjustierungen, daran festhält. Das beweisen auch die aktuellen Reformen bei den Streitkräften. Israel stellt sich darauf ein, dass konventionelle Kriegsführung auf absehbare Zeit nicht nötig sein wird und setzt vermehrt auf eine Mischung aus leichter Bewaffnung, Drohnen, Kampfflugzeugen, Raketenabwehr, Aufklärung und eben schwerem Gerät.

 

Letzteres kam besonders im Süden beim Angriff auf Gaza zum Einsatz, während im Norden gegen Hizbullah und IS gezielte Schläge von größerer Bedeutung sind. Auch wenn einige Stimmen aus dem militärisch-industriellen Komplex immer noch davor warnen, spricht momentan nichts für einen längeren Krieg auf dem Schlachtfeld. Sollte es in den nächsten Jahren zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen, werden Terroristen oder Guerilla die Gegner sein. Sie operieren im Untergrund aus Bunkern oder komplexen Tunnelsystem, weswegen präventive Informationsbeschaffung und chirurgische Aktionen immer wichtiger werden.

 

Ein solcher Krieg könnte schneller Realität werden als geplant. Die jüngste Eskalation im Gazastreifen zeigt, dass die Probleme in Palästina nicht einfach ausgeblendet werden können wie jene der Nachbarstaaten. Die arabischen Länder mögen zwar abgelenkt sein, der Rest der Weltöffentlichkeit schaut dennoch auf den prominenten Konflikt. Dass die Palästinensergebiete im Zuge des Arabischen Frühlings von wenigen Ausnahmen abgesehen von Unruhen verschont blieben, war ohnehin verwunderlich.

 

Ob es sich jetzt nur um eine unglückliche Verkettung von Ereignissen handelt oder eine dritte Intifada bevorsteht, kann zu diesem Zeitpunkt nur gemutmaßt werden. US-Präsident Barack Obama hält weiter daran fest, dass Frieden im Heiligen Land nur mit einer Zweistaatenlösung möglich ist. Es scheint, als gäbe es zumindest eine Frage, die Israel nicht aussitzen kann. Der Arabische Frühling hat dem Land ein nie dagewesenes Maß an außenpolitischer Sicherheit gebracht. Die größte Gefahr ist nun, dass es den richtigen Zeitpunkt verpasst, auf die arabischen Staaten zuzugehen.

 

Deren Instabilität und der unklare Status Palästinas irgendwo zwischen Autonomie und Souveränität steigern das Risiko, dass Israel sowohl regional, als auch weltweit zunehmend isoliert wird, womit es letztlich seine neugewonnene Sicherheit aufs Spiel setzt.

Von: 
Oliver Imhof

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.