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Interview zum Südsudan-Konflikt

»Die gesamte Region hat ihre Interessen im Konflikt«

Interview

Afrikanistin Chantal Wullimann über die Gemengelage im Konflikt im Südsudan, den Sinn und Unsinn von Entwicklungszusammenarbeit in Krisengebieten und warum es für Frieden und Stabilität manchmal undemokratische Visionen braucht.

zenith: Es ist noch nicht lange her, da hat der Süden vereint für die Unabhängigkeit gekämpft. Nun, kaum dass man den eigenen Staat hat, brechen interne Streitigkeiten aus. Tobt hier ein neuer »Bruderkrieg«?

Chantal Wullimann: Die Nuer und Dinkas sehen sich sicher nicht als Brüder! Insofern: Nein. Als man noch gemeinsam gegen den Norden kämpfte, identifizierte man sich als »Südler«, als Afrikaner oder als Christen – im Gegensatz zu denen im Norden, die als »Araber« und »Muslime« wahrgenommen werden. Nach der Unabhängigkeit ist jedoch plötzlich der gemeinsame Feind weggefallen und noch ist es nicht gelungen, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu stiften. Zudem sind viel zu viele Waffen im Umlauf, auch unter der Zivilbevölkerung, und auch die südsudanesische Armee ist ein sehr heterogenes Gemisch von Rebellen und Banden.

 

Sehnen sich die Leute jetzt zurück nach der Zeit, als es noch einen »gemeinsamen Feind« gab?

So kann man das sicher nicht sagen. Ich glaube, die Menschen sehnen sich vielmehr nach Frieden, Rechtssicherheit und einem Leben in Würde.

 

Worum geht es bei den Kämpfen?  

In erster Linie geht es um die Teilhabe an der Macht, um Besitzverhältnisse und um politische Mitsprache sowie in zweiter Linie um Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Rebellenführer Riek Machar hätte große Chancen gehabt, die für Frühjahr 2015 angesetzten Wahlen zu gewinnen. Da Präsident Salva Kiir die Wahlen aber verschieben wollte, angeblich weil keine Volkszählung durchgeführt werden könne, sah Machar seine Felle davonschwimmen. Wiederholt hat er sich kritisch zu Wort gemeldet, so auch während den Parteigesprächen im Dezember. Ob tatsächlich ein Putsch geplant war, so wie Kiir es behauptet, kann ich nicht beurteilen. Ich halte es allerdings für gut möglich.

 


Chantal Wullimann

ist studierte Afrikanistin und Geografin. Im Auftrag der christlich-reformierten Nichtregierungsorganisation mission 21 ist sie seit Oktober 2013 im Südsudan im Einsatz. Aufgrund der prekären Sicherheitslage musste Wullimann Ende 2013 nach Kenia ausreisen und arbeitet derzeit aus der Hauptstadt Nairobi weiter.


 

Viele Medien sprechen von ethnischen Auseinandersetzungen. Kein Bruderkrieg, sondern ein Stammeskrieg?

Wie so oft bei solchen Konflikten ist die ethnisch-religiöse Komponente nicht die eigentliche Ursache des Konfliktes, sondern ein Multiplikator von und eine Folge der Auseinandersetzung. Richtig ist, dass sich es gemäß Aussagen internationaler Organisationen, sowie von Angehörigen unserer größten Partnerorganisation, der Presbyterianischen Kirche des Südsudan (PCOSS), in Malakal sowie in Juba zu systematischen Exekutionen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit gekommen ist. Grundsätzlich stehen sich hier zwei Lager gegenüber: Die regierungstreuen Gruppen von Präsident Salva Kiir, zumeist ethnische Dinka, und die Truppen unter der Führung von Riek Machar, denen vor allem ethnische Nuer angehören. Beide Lager haben aber auch Anhänger der jeweils anderen Volksgruppe. So steht zum Beispiel die ethnische Dinka und Witwe des ehemaligen Unabhängigkeitskämpfers John Garang, Rebecca Nyandeng De Mabior, den Rebellen um Machar nahe.

 

Das Nachbarland Sudan befürchtet einen erneuten totalen Stopp der Ölproduktion wie zuletzt im Sommer 2012. Und auch die USA mit ihrer offensiven Unterstützung der südsudanesischen Unabhängigkeit können einen Staat am Rande des Zerfalls nicht gebrauchen. Wer hat noch seine Finger im Spiel?

Die gesamte Region hat ihre Interessen im Konflikt. Am stärksten involviert ist Uganda: Dessen Truppen kämpfen seit Beginn der Auseinandersetzungen an Kiirs Seite, unter anderem um die mit Rebellenführer Riek Machar verbündete christlich-fundamentalistische Guerillatruppe »Lord’s Resistance Army« (LRA) in Schach zu halten, die als seit mehr als zwanzig Jahren in der gesamten Region die Regierung von Ugandas Präsident Yoweri Museveni bekämpft. Khartums erste Sorge gilt natürlich der Ölproduktion, doch befürchtet der Sudan – ähnlich wie Äthiopien – ein Übergreifen des Konflikts auf die gesamte Region. Beide Länder verlangen deshalb gemeinsam mit den USA und anderen westlichen Staaten einen Rückzug der ugandischen Truppen. Nachdem Uganda jedoch kürzlich einen Rückzug ankündigte, sind die Kämpfe erneut aufgeflackert – auf wessen Konto das geht, ist schwer zu sagen. Auch eine Integration der ugandischen Truppen in eine Friedensmission der Afrikanischen Union wird eher mit Sorge betrachtet. Andere ostafrikanische Nachbarn wie Tansania haben bereits die Aussendung von Truppen zur Unterstützung der UN-Friedensmission für April angekündigt, auch Kenia will sein bereits aktives Truppenkontingent aufstocken. Kenia ist zudem – wie schon im Sudanesischen Bürgerkrieg – als zentraler diplomatischer Vermittler bei den Friedensgesprächen aktiv.

 

Sie selbst waren als ökumenische Mitarbeiterin von mission 21 in Malakal stationiert, einer Stadt im Norden des Südsudans. Die Stadt wurde seit Ausbruch der Unruhen heftig umkämpft und hat bisher fünfmal die Seiten gewechselt. Haben Sie Kontakt zu Ihren Partnerorganisationen vor Ort?

Alle meine Arbeitskollegen aus Malakal sind zurzeit auf der Flucht, nachdem die Menschen sogar auf Kirchengelände nicht mehr sicher sind. Von einzelnen Kollegen weiß ich, wo sie sich derzeit aufhalten. Jemand hat Äthiopien erreicht, andere sind bis Juba oder Khartum gekommen. Viele Familien sind auseinandergerissen, weil sie bei Ausbruch der Unruhen getrennt waren und bis jetzt noch nicht zusammengeführt werden konnten oder weil im Südsudan verbleibende Menschen ihre Angehörigen ins sichere Ausland reisen lassen. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um die Nuer, die die Stadt verlassen haben, als sie noch von Nuer-Rebellen gehalten wurde.

 

»Zwei Drittel des Landes sind von der jüngsten Krise akut betroffen«

 

Seit über dreißig Jahren wird in der Region schon gekämpft. Mehrere Generationen kennen nichts als Krieg, für viele sind die Flüchtlingslager seit Jahren ihr Zuhause. Unterscheiden sich die aktuellen Kämpfe überhaupt vom Alltag zuvor?

Man muss etwas differenzieren. Momentan sind vielleicht zwei Drittel des Landes von der jüngsten Krise akut betroffen. Es gab – und gibt an einigen Orten heute immer noch – so etwas wie einen funktionierenden Alltag. Allerdings hat sich in den Staaten Unity und Upper Nile die Sicherheitslage von »Frieden« auf »Krieg« akut verschlechtert, Menschen wurden in ihren Krankenbetten erschossen; es herrscht ein unbeschreibliches Leid.

 

Das bedeutet, vor dem Ausbruch der neuesten Kämpfe war es zumindest überall friedlich?

Nein, an manchen Orten, wie zum Beispiel im Bundesstaat Jonglei, hatten die Kämpfe nie aufgehört. Dort sorgte Rebellenführer David Yau Yau in den Monaten vor Ausbruch der jüngsten Gefechte bereits für heftige und blutige Kämpfe. Auch im Bundesstaat Central Equatoria kam es immer wieder zu sporadischen Gefechten und die Lage ist nach wie vor angespannt. Es wurde auch von einzelnen Kämpfen zwischen Angehörigen des Militärs in Yei berichtet, sowie in Nimule an der Grenze zu Uganda. Ansonsten sind die Staaten Eastern, Central und Western Equatoria sowie Lakes und Bahr el Ghazal ruhig.

 

Derzeit arbeiten Sie von Nairobi aus. Was können Sie denn von dort ausrichten?

Seit meiner Ausreise im Dezember 2013 bin ich soweit wie möglich täglich in telefonischem Kontakt mit Mitarbeitern unserer Partnerorganisationen in Malakal, Benitu und Juba. In vielen Fällen geht es bei den Anrufen vor allem darum, für die Partner vor Ort und ihre Nöte da zu sein. Außerdem arbeiten wir seit Januar an der Planung für die nächsten Monate. Projektanträge müssen an die veränderten Bedingungen angepasst und die aktuellen Aktivitäten neu budgetiert werden. Sobald feststeht, welche Mittel von den Partnern im Südsudan zurzeit gebraucht werden, müssen Kanäle gefunden werden, diese zu transferieren.

 

»Der Kontakt zur Außenwelt gibt den Menschen im Südsudan zurzeit Hoffnung«

 

Was heißt das genau?

Zwar funktioniert das Bankensystem in Juba zurzeit wieder, der Schatzmeister der Presbyterianischen Kirche befindet sich aber zurzeit im von den Kämpfen stark betroffenen Staat Unity, wo nach wie vor das gesamte Transportsystem zusammengebrochen ist. Somit hat die PCOSS keine Möglichkeit, an flüssige Mittel zu kommen. Die Banken in Malakal sind bis auf weiteres außer Betrieb, da sie Plünderungen und Brandschatzungen zum Opfer gefallen sind.

 

Viel von dem, was an Aufbauhilfe in den Südsudan gesteckt wurde, ist nun wieder zerstört worden. Macht es überhaupt Sinn weiterzumachen, solange kein gesicherter Frieden in Sicht ist?

Aufbauhilfe kann nur in Zeiten relativer Stabilität geleistet werden. Was in den am stärksten betroffenen Gebieten nun dringend benötig wird, sind Nothilfeleistungen. Ansonsten denke ich, dass noch lange nicht alles verloren ist – man denke an individuelle Aus- und Weiterbildung, die geleistet wurde oder an Fortschritte in der Organisationsentwicklung unserer Partnerorganisationen. Dies sind strukturelle Veränderungen, die nicht so schnell verloren gehen. Zudem gibt der Kontakt zur Außenwelt den Menschen im Südsudan zurzeit Hoffnung und – wie bereits erwähnt – gibt es immer noch Regionen, die von den jüngsten Auseinandersetzungen nicht betroffen sind und weiterhin dringend auf eine Fortführung der bestehenden Kontakte angewiesen sind.

 

Momentan sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) über 880.000 Menschen auf der Flucht. Gibt es für sie ausreichend Hilfe?

Nein. Wie immer sind die Hauptleidtragenden Frauen, Kinder und ältere beziehungsweise kranke Menschen. Immerhin, wer eine UN-Anlage erreicht hat, erhält zumindest gewisse medizinische Hilfe und Lebensmittelrationen wie Energiebiskuits für Kinder. Aber an Decken und Zelten fehlt es immer noch. Die Regenzeit beginnt bald und in Juba hat es bereits an einigen Tagen heftige Gewitter gegeben, denen die Menschen – auch ein Großteil der Flüchtlinge bei der UN – schutzlos ausgeliefert sind.

 

»Die Kirchen sollten als verbindendes Element eine größere Rolle spielen«

 

Was tragen Sie zur Nothilfe bei?

Mission 21 selbst leistet keine Nothilfe. Dies übernehmen Partnerorganisationen, die von uns seit Jahren unterstützt wurden, wie die »Presbyterian Relief and Development Agency« (PRDA) und der Südsudanesische Kirchenbund (SSCC). Beide Organisationen haben bereits während den Bürgerkriegsjahren bedeutende Nothilfeaktionen initiiert und koordiniert. Immer wieder entstehen jedoch Situationen, in denen schnelles Reagieren auch für uns wichtig ist. Für ein von uns unterstütztes Kinderheim im zurzeit noch nicht von den Kämpfen betroffenen Renk, ganz im Norden des Landes, werden Maßnahmen für den Ernstfall getroffen. Es müssen Feuerlöscher angeschafft, Reserven an Lebensmittel, Trinkwasser und Treibstoff für den Generator angelegt sowie Holz besorgt werden, um die Fenster zu sichern. Außerdem braucht es zusätzliches Erste-Hilfe-Material und Geld, um die Löhne für die nächsten Wochen zu sichern, sollte das Bankensystem – wie in Malakal – zusammenbrechen. Dank meiner Anwesenheit in Nairobi konnten wir innerhalb von 24 Stunden rasch und unkompliziert Gelder nach Renk transferieren.

 

Wie reagieren die Nachbarländer auf die neue Flüchtlingswelle?

Kenia war bisher immer sehr großzügig, Flüchtlinge aus dem südlichen Sudan und dem heutigen Südsudan aufzunehmen. Die beiden größten Lager dort, in Lokichoggio und Kakuma, haben nach Angaben unserer Partnerorganisation PRDA großen Zustrom erhalten. Die Rolle des Sudans hingegen ist – wie gesagt – ambivalent. Einerseits ist Präsident Omar al-Baschir wirtschaftlich an einem stabilen Südsudan interessiert, da der Großteil des Öls im Süden lagert und der Norden am Transport und dem Hafen im Norden verdient. Andererseits sind die Menschen aus dem Süden wohl eher weniger willkommen.

 

In Addis Abeba finden Vermittlungsversuche zwischen Regierung und Rebellen statt. Denken Sie, dass die Zivilgesellschaft stärker in die Verhandlungen einbezogen werden müsste?

Leider ist die Zivilbevölkerung selbst sehr zersplittert und äußerst schlecht oder gar nicht organisiert. Eine größere Rolle sollte meiner Meinung nach den Kirchen – als größtes verbindendes Element im Südsudan – zukommen. Vor allem in den Jahren des sicher nicht einfach werdenden Versöhnungsprozesses tragen die religiösen Führer eine sehr große Verantwortung.

 

Warum konnte das Christentum bisher keine Rolle als Einheit stiftendes Element spielen?

Die Kirche ist heute leider keine homogene Einheit. Auch innerhalb der Kirchen beziehungsweise innerhalb der Denominationen spielt die Herkunft, Sprache und ethnische Zugehörigkeit eine große Rolle. Ethnisch gemischte Gottesdienste sind nach wie vor die Ausnahme; Dinkas, Nuer, Shilluk, Murle und die anderen Volksgruppen halten getrennt Gottesdienst. Die Kongregationen müssen meiner Meinung nach versuchen, die ethnischen Gräben zu überwinden und regelmäßig gemischte Gottesdienste anbieten.

 

Braucht es einen »charismatischen Führer« für den Südsudan?

Ja, ich stelle mir da jemanden vor, dessen höchstes Ziel das Wohl und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in seinem Land ist und dem die Menschen vertrauen.

 

Das ist aber kein besonders demokratisches Szenario, wovon Sie da träumen.

Westliche Länder sprechen immer wieder von demokratischen Strukturen. Was aber, wenn uns bekannte Systeme in anderen Kontexten nicht funktionieren? Es ist an der Zeit, einzugestehen, dass jedes Land, jede Gesellschaft eine andere Geschichte und andere Wertvorstellungen hat. Das sieht man sehr gut im Irak: Das Land hat die wahrscheinlich schönste Verfassung der Welt, kann sich aber aus dem Chaos kaum retten. Symptome bekämpfen kann nicht das Ziel sein. Ziel muss sein, ein System zu erschaffen, das funktioniert – und das braucht Zeit.

Von: 
Sara Winter Sayilir

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