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Interview mit Regisseur Imre Azem über Gezi-Proteste in der Türkei

»Es ist zu spät für Erdogan«

Interview

Regisseur Imre Azem war einer der ersten Demonstranten im Gezi-Park. Im Interview spricht er über das düstere Bild der Baupolitik in Istanbul, das sein Film bereits vor zwei Jahren entwarf – und über die Optionen der Protestbewegung.

zenith: Am 29. Mai 2013 fing die Regierung Erdogan mit dem Bau der dritten Brücke über den Bosporus an. Weitere Mega-Projekte sind geplant –  die größte Moschee der Türkei in Camlica, ein dritter Flughafen, ein Kanal mit dem Spitznamen »Zweiter Bosporus«. Diese Projekte scheinen unaufhaltbar, oder?

Imre Azem: Wir haben gerade bewiesen, dass sie nicht unaufhaltbar sind. Die letzten zehn Jahre hat unser Ministerpräsident nach einem Motto regiert: Wir haben die höchste Zahl an Stimmen, also können wir machen, was wir wollen. Wir können euch eure Stimme und eure Rechte nehmen – denn die Mehrheit der Menschen hat uns dazu ermächtigt. Jetzt entlädt sich eine Explosion der Wut gegen diese Haltung. Es ist die Wut, die sich bei den Menschen in den letzten zehn Jahren angesammelt hat. Es hat alles in dem Park begonnen. Doch der Park ist nur ein Symbol für viele von Erdogans Projekten: Sie werden umgesetzt, ohne irgendjemanden zu fragen.

 

Wie fing dieser Protest an?

Nicht wir haben die aktuellen Unruhen geschürt, sondern unser Ministerpräsident. Erdogan denkt, er kann im Gezi-Park ein Einkaufszentrum bauen. Doch wir wollen einen kostenfreien Park, in dem wir sitzen können, ohne zwei Euro für eine Tasse Tee zu zahlen. Die Veränderungen sind Teil eines größeren Plans, um den Taksim-Platz zu kommerzialisieren. Unter dem Platz soll der Verkehr laufen, sodass man mit dem Auto über Tunnel direkt zu den neuen Einkaufszentren gelangt. Als dieses Projekt verkündet wurde, starteten wir die »Taksim-Solidaritäts-Bewegung« und sammelten Unterschriften. Am 27. Mai fingen die Bulldozer an einer Ecke des Parks mit der Zerstörung an. Also begannen wir, ihn zu besetzen. In der ersten Nacht waren wir nur ein paar Freunde in Zelten. Am nächsten Tag riefen wir mehr Menschen an: Erst waren es 50, dann 250 und dann 3.000 in der vierten Nacht.


Imre Azem,

ist Politikwissenschaftler und Filmemacher. Der Regisseur des 2011 erschienenen Films »Ekümenopolis« engagiert sich seit Jahren gegen die großflächige Umstrukturierung Istanbuls.


Aber Erdogans Baupläne für Istanbul sind doch schon seit Jahren bekannt. Warum hat der Protest so spät begonnen?

Lange Zeit hatten die Menschen Angst und keine Hoffnung. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass man irgendeines dieser Projekte durch Protest aufhalten könnte. Aber jetzt fühlen und wissen wir, dass wir das können. Viele der Menschen, die ich in meinem Film porträtiert habe, die vertrieben und deren Häuser zerstört wurden, haben sich den Protesten angeschlossen. Wenn von nun an irgendein Viertel gefährdet ist, werden wir in großer Zahl vor Ort sein, um die Bulldozer aufzuhalten.

 

Was für Reaktionen hat Ihr Film ausgelöst, als er vor zwei Jahren veröffentlicht wurde?

Interessanterweise haben wir nie etwas Negatives seitens der Politikern gehört. Der Bürgermeister von Istanbul, Kadir Topbas, kommentierte den Film so: »Wenn du auf die Dornen schaust, siehst du die Dornen. Wenn du auf die Blume schaust, siehst du die Blume.« Das ist eigentlich gar kein so schlechtes Feedback. Meiner Meinung nach ist es ein Verdienst des Films, die Verbindung zwischen dem Geldfluss in die Stadt, jener Vision von einer »Global City«, und dem, was in den Vierteln der Menschen passiert, zu ziehen. Denn viele Menschen haben diese größeren Verbindungen nicht begriffen. Jetzt ist dieses Bewusstsein weiter verbreitet. Vor zwei Wochen noch hatte Istanbul deutlich bessere Chancen, 2020 die Olympischen Spiele auszurichten. Die Menschen wissen, dass solche Projekte einen Verlust ihres Lebensraumes bedeuten.

 

Aber all diese Pläne sind Teil eines Programms, das bereits vor Jahren festgeschrieben wurde. Und Erdogan kann immer noch auf viele Unterstützer im ganzen Land zählen.

Was uns wirklich an den Projekten stört, ist dieser Fetischismus der Superlative: immer das Höchste, das Größte muss es sein. Alle despotischen Regime nähren sich durch solche Symbole des Gigantismus. Doch immer mehr Menschen stellen sich jetzt gegen diese Gangart, die man Erdogans »Neo-Osmanismus« nennt. Die massive Polizeigewalt und Erdogans Reaktion auf die Proteste hat noch mehr Menschen aufgebracht.

 

Was kann er jetzt noch tun?

Wenn er Eingeständnisse macht, wird er an Charisma einbüßen. Dann ist er weg vom Fenster, denn die Menschen lieben ihn wegen seiner Ausstrahlung. Und wenn er auf seiner kompromisslosen Haltung besteht, ist er auch nicht mehr zu halten. Es ist zu spät für Erdogan. Er wird gehen müssen.

 

Und wie sieht die Alternative aus?

Die verschiedenen Oppositionsparteien haben versucht, die Proteste für ihre eigenen Zwecke zu kapern. Aber die Menschen, die am Anfang der Proteste standen, sagten ihnen unmissverständlich: Ihr repräsentiert uns nicht! Bei diesem Protest geht es um die generelle Lage der Politik im Land. Es muss Koalitionen geben. Erdogans Verständnis von Demokratie ist nicht modern. Die Mehrheit kann der Minderheit nicht ihre Rechte wegnehmen. Daher erhebt sich der Widerstand nun weit über die Umweltfrage hinaus. Wir können also nicht sagen, dass wir das nicht wollten, als wir mit dem »Taksim-Solidaritäts-Bewegung« begannen. Wir werden nun versuchen, die Proteste stärker zu koordinieren. Unser Ziel ist es, Wege der Partizipation für die Menschen zu schaffen. Wir müssen Alternativen zur neoliberalen Urbanisierung und der Privatisierung des öffentlichen Raums durch die Regierung schaffen.

Von: 
Marian Brehmer

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