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Ideologie und Bildersturm beim IS und Al-Qaida

Götzendienst im Kalifat

Essay

Der Dschihado-Faschismus des »Islamischen Staates« und von Al-Qaida beschwört eine mythische Epoche im Islam. Tatsächlich verfälscht und vernichtet er Geschichte, um sie dann vereinnahmen zu können.

Es gibt keine Geschichte. Für IS, Al-Qaida und die übrigen dschihadistischen Gruppierungen gibt es keinerlei Historizität, obgleich sie sich mit vermeintlichen historischen Referenzen schmücken. Sie verweigern, was Geschichte ist und sein muss: eine Neuinterpretation der Vergangenheit, in der jeder Moment trotz großer Zusammenhänge einmalig ist, und damit auch das Jetzt. Für sie existiert dagegen nur das »goldene Zeitalter« Muhammads und der »frommen Altvorderen«, al-Salaf al-Salih.

 

Auf diese mythische Gründerzeit im 7. Jahrhundert begründet der Dschihadismus seine Scheinlegitimität. Die Entfaltung islamischer Hochkultur vom 8. bis ins 13. Jahrhundert wird weggewischt. Ebenso die Tatsache, dass Kairo, Damaskus oder Bagdad Zentren der Weltkultur wurden, weil sich Muslime den Einflüssen der Juden, Christen oder Perser öffneten. Für Dschihadisten existiert nur die Ur-Zeit, Illud tempus, die gemäß dem Philosophen Mircea Eliade das Jetzt definiert und in der »ein Gegenstand oder eine Handlung nur in dem Maße wirklich werden, wie sie einen Archetyp nachahmen oder wiederholen«.

 

Alles, was kein exemplarisches Vorbild besitze, sei »des Sinnes entblößt«. Dies schrieb Eliade 1949 in »Kosmos und Geschichte«. Dschihadisten behaupten, sie seien zum Ursprung, zum wahren Islam zurückgekehrt. Dieser Geschichtsraub bedient sich aller Register und Requisiten: Sie tragen Hosen zu den Knöcheln und Turbane wie dereinst angeblich Muhammad. Sie usurpieren Kampfnamen seiner Gefährten, sein Siegel als Logo für ihre Terrorbanden.

 

Sie spiegeln vor, sie befänden sich in der Hidschra, der Zeit seines Exils in Medina, wo Muhammad die erste muslimische Gemeinschaft gründete. Schon Osama Bin Laden versuchte das. »Oh wahrlich, die glorreiche Zeit des Propheten ist wiederauferstanden«, schrieb ihm einst ein saudischer Prediger. Der »Emir« Osama besaß jedoch noch Bescheidenheit im Vergleich zum totalen Delirium des in Schwarz – der Farbe der Revolution – gehüllten »Kalifen« Abu Bakr al-Baghdadi.

 

Auch vor der Offenbarung machen die Dschihadisten nicht halt. Koran und Überlieferungen Muhammads gelten ihnen als einzige Quellen des Glaubens. Quellen, die keine Interpretation zulassen sollen – und so zu leblos kruden Annalen degradiert werden. In Wirklichkeit amputieren sie selbst den Koran. Einer ihrer Lieblingsverse lautet auf Deutsch: »Wenn ihr auf diejenigen, die ungläubig sind, im Kampf trefft, dann tötet sie, bis ihr sie niedergeschlagen habt.« (Sure 47, Vers 4-5.) Dieser Vers lässt sich aber auch anders lesen: »Wenn ihr nun (im Verlaufe eines Verteidigungskriegs) auf die Ungläubigen stoßt, dann schlagt sie auf den Nacken, bis ihr sie niedergerungen habt.« Also nichts von einer Pflicht zum Töten.

 

Zudem lassen sie den folgenden Vers meist aus: »Danach gebt sie frei, entweder aus Gnade oder gegen Lösegeld, damit der Krieg aufhört, euch zu belasten.« Die Komplexität des Korans, der wie die Bibel widersprüchliche Passagen enthält, wird ignoriert. Ebenso ist es für Dschihadisten unverzeihlich, den Propheten in historischen Kontext einzuordnen und ihn etwa als Sozialreformer anzusehen, der erstmals Frauen das Recht auf Erbschaft garantierte oder eine Almosensteuer (zakat) einführte.

 

Dabei brechen sie selbst mit der mythischen Gründungszeit. Nicht nur vermittels banaler Neuerungen wie dem »Dschihad 2.0« oder dem Video-Totenkult mit Darstellungen von Paradies, rauschenden Wasserfällen und Märtyrern mit Heiligenschein, die im sunnitischen Islam bisher ein Tabu darstellten. Die größte Lüge aber ist die Essenz des Dschihadismus selbst: Dschihad im Sinne des bewaffneten Kampfes, nicht einer inneren Glaubensanstrengung.

 

Wer durch ein Selbstmordattentat den Tod findet, muss nicht auf das Jüngste Gericht warten, sondern bekommt sofortigen VIP-Zugang zum Paradies. Dass Selbstmord im Islam verboten ist und kein Gefährte des Propheten aktiv den Tod suchte, tun sie ab: Damals habe es ja keinen Sprengstoff und keine Flugzeuge gegeben. Für diese Dschihadisten muss, um noch einmal Eliade zu bemühen, »die abgelaufene Zeit annulliert werden«. Die Geschichte wird vernichtet, damit man sie besser klittern kann.

 

Der Altgelehrte Eliade hatte im Übrigen zeitweise selbst Sympathien für die Faschisten in seiner Heimat Rumänien – vielleicht kann man mit seiner Hilfe deshalb auch eine Ideologie enttarnen, die mit dem Wort »Dschihado-Faschismus« wohl am besten beschrieben ist.

Von: 
Asiem El Difraoui

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