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Gezi-Proteste in der Türkei

Tränengas-Tango in Ankara

Feature

Während es am Istanbuler Taksim-Platz wohl auch aus Rücksicht auf die globale Medienöffentlichkeit relativ ruhig bleibt, verlagert sich die Konfrontation nach Ankara. Oliver Müser erlebte, wie die Hauptstadt zur Protesthochburg wurde.

Ich hatte die Bilder vom Tahrir-Platz gesehen, Menschenmassen im Straßenkampf mit der Polizei. Ich hatte mir gewünscht, ein Mal dabei zu sein, wenn ein Land diese plötzliche Eigendynamik entfaltet und seine Unzufriedenheit mit der politischen Führung unkontrolliert auf die Straβe trägt. Und dann bin ich auf einmal dabei, in einem Land, das in den letzten Jahren vor allem mit rasendem Wirtschaftswachstum und globalen Prestigeprojekten glänzte. Als ich in Ankara ankomme, habe ich keine Ahnung vom Brodeln in der Türkei. Ich hatte von Demonstrationen in Istanbul gehört, war aber in den kleineren Städten unterwegs immer wieder auf Begeisterung für die Regierung Erdogan gestoßen. Ich fahre in die Innenstadt, will zur zentralen Kisilay-Kreuzung. Doch die U-Bahn fährt die Station nicht an.

 

Der Mann neben mir begegnet meinem fragenden Gesichtsausdruck, indem er seine Fäuste zusammenschlägt und lachend »Bumm! Bumm!« ruft. So gehe ich zu Fuß Richtung Zentrum, auf der Straße sitzen überall junge Menschen. Je näher ich dem Zentrum komme, desto voller wird es. In der Ferne höre ich die typischen Demonstrationsgeräusche. Pfeifen, Sirenen und Schlachtrufe. Das Gedränge wird immer dichter. Plötzlich rennen die Leute in meine Richtung. Ich weiß nicht wohin und verschanze mich in einer Teestube. Gerade noch trank hier eine Handvoll älterer Männer in Ruhe ihren Tee und spielte Backgammon. Jetzt füllt sich der kleine Raum binnen weniger Minuten mit panischen Jugendlichen. Ein Fehler, wie sich bald herausstellt. Wir sind gefangen, das Tränengas dringt überall ein. Es riecht nach Abgasen und zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich das leichte Stechen in der Nase, gefolgt von brennenden, tränenden Augen und Übelkeit. Ein junges Mädchen wird unter wildem Geschrei hereingetragen und auf einen der Tische gelegt. Als sie sich beruhigt, hat sich auch der Sturm auf der Straße gelegt.

 

Das Tränengas ist ein kaum zu bezwingender Gegner

 

Überall sitzen junge Leute, entsetzt über das Vorgehen der Polizei. Rote Augen und ein provisorischer Atemschutz kennzeichnen die Gesichter des Aufstands. Kleine Gruppen junger Männer ziehen vorbei, zielstrebig und kampfeslustig ins Epizentrum des Protests. Hier und da halten sie an und zertrümmern Bushaltestellen und Werbevitrinen. Sie ernten Kopfschütteln, aber auch Akzeptanz. Ihre von Testosteron getriebene Ausdauer hält den Aufstand trotz Tränengas, Wasserwerfern und Polizeiknüppeln am Leben. Doch vor allem das Gas ist ein kaum zu bezwingender Gegner. Die Demonstranten helfen sich mit einer einfachen Strategie: dem Schichtprotest. Immer wenn eine neue Gaswolke in die Menge weht, ziehen sich die Demonstranten vorne zurück und aus dem Hintergrund rücken frische Protestler in die ersten Reihen.

 

Aus dem Polizeihubschrauber muss das Geschehen wie ein choreographierter Massentanz aussehen. Als es dunkel wird, zieht sich die Polizei zurück und die Demonstranten feiern ihren Etappensieg mit Feuern auf der Straße. Am nächsten Tag fahre ich mit Bekannten aus der Vorstadt zum Aufstand, der längst ein landesweites Event, vor allem für Schüler und Studenten, geworden ist. Im Bus ist die freudige Erregung zu spüren, bei etwas Großem dabei zu sein. Anders als sonst wird kaum geredet, aber immer wieder werfen sich die jungen Männer ein stolzes, wissendes Lächeln revolutionärer Solidarität zu.

 

Mehr als ein Wochenendprotest

 

Die Geräuschkulisse an der Kisilay-Kreuzung ist beeindruckend. Nicht so sehr durch Schlachtrufe und -gesänge, sondern vor allem durch das permanente Schlagen von Steinen und Metallgegenständen gegen Ampeln und Straßenschilder. Das Polizeiaufgebot ist größer als am Vortag. Doch so wie die Regierung ihre Bemühungen um eine Eindämmung der Proteste verstärkt, entwickelt sich auch die Protestbewegung weiter. Waren gestern noch viele Demonstranten ohne Atemschutz unterwegs, hat heute jeder irgendetwas vor Mund und Nase. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Von Fußballschals über schöne Kashmirtücher, Handtücher, türkische Flaggen bis hin zur professionellen Taucherausrüstung ist alles dabei.

 

Auch die Versorgung der Demonstranten ist gut organisiert. Einige von ihnen laufen mit Sprühdosen herum, darin Zitronenflüssigkeit zum Schutz der Augen gegen das Tränengas. Andere laufen mit Plastiktüten durch die Protestzone und sammeln Müll ein. Ein Mann mit einem Atatürk-T-Shirt zieht durch die Menschenmassen und verkauft Tee von einem Einkaufswagen, ein paar andere grillen auf der Straße Köfte. Manchmal erinnert der Protest an ein Volksfest. Nach ein paar Stunden brennen die Augen trotz Atemschutz und wir fahren nach Hause. Im Bus debattieren alle zusammen die Geschehnisse und die Politik von Premier Erdogan. Doch zuhause angekommen schlägt die freudige Proteststimmung in Entsetzen um: Auf Facebook und Twitter geht die Nachricht von ersten Todesopfern um.  Trotzdem soll es morgen weiter gehen. »Und übermorgen und überübermorgen«, sagt mein Bekannter »Bis Erdogan geht.«

Von: 
Oliver Müser

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