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Georgische Hafenstadt Batumi

Am anderen Ende des Schwarzen Meeres

Feature

Einst zum Ölterminal ausgebaut, versucht sich die georgische Hafenstadt Batumi heute neu zu erfinden. Touristen erwartet statt Stalins verstaubtem Erbe ungewöhnliche Architektur und Gerichte – und trinkfreudige Gastgeber.

Das Frühjahr ist wahrscheinlich die beste Reisezeit, um Batumi zu besuchen. Die Sonne wärmt bereits die Luft, und auf der aus mehreren, parallelen Wegen bestehenden Strandpromenade riecht es angenehm nach Kiefern. Zwischen den Nadelbäumen gepflanzte Palmen verleihen dem Ganzen ein südliches Flair. Die Bänke sind frisch gestrichen, nur vereinzelt finden sich auf ihnen turtelnde Studentinnen und Studenten der örtlichen Universität, Zeitung lesende ältere Herren, plaudernde Mütter mit Kinderwaagen und ein paar Wochenendgäste.

 

Selbst die auffällig blondierte Dame neben dem noch geschlossenen Zeitungskiosk scheint die Vorsaison zu genießen. Im Hintergrund erheben sich schneebedeckte Berge sowie die Silhouette des bis zu 5.000 Meter hohen Großen Kaukasus. Im Vordergrund ziehen Tümmler ihre Bahnen durch das glatte Schwarze Meer. Ihre glänzenden Rücken tauchen auf und verschwinden wieder, nur um dann ein wenig weiter erneut zu erscheinen. Von Hektik keine Spur.

 

Es ist kein Wunder, dass seit über 100 Jahren Touristen ihren Weg in den Küstenort finden, darunter so illustre Persönlichkeiten wir Anton Čechov und Sergej Jessenin. Bei der Betrachtung von alten Postkarten der Stadt fällt es einem nicht schwer, sich auch die beiden Schriftsteller unter den Markisen der Kaffeehäuser sitzend, über die breiten Straßen schlendernd oder auf einer Seebrücke stehend, vorzustellen.

 

Sicherlich ließen auch sie sich zum nahe gelegenen Botanischen Garten auf dem »Grünen Kap« fahren, um von dort den Blick über Bucht, Berge und Batumi zu genießen. Heutzutage bringen einen die »Marschrutki« der Linie 1 in einer Viertelstunde dorthin und später wieder zurück. Sie halten auf Zuruf sowie an festgelegten Plätzen, beim Aussteigen reicht man dem Fahrer einen halben Lari (zwei Lari entsprechen einem Euro) und befindet sich wieder in der Stadt.

 

Nun kann man das letzte Stück der Strandpromenade entlang schlendern, bis man an das erste Hafenbecken gelangt. Es ist den Fischerbooten und Ausflugsschiffen vorbehalten. Eines von ihnen wird gerade auf die Sommersaison vorbereitet. Die Crew schleppt einen riesigen Kühlschrank über einen wackligen Holzsteg an Bord und gönnt sich dann die verdiente Zigarettenpause. Daneben befindet sich eine kleine Werft. Hinter ihr nimmt der eigentliche Hafenkai seinen Anfang.

 

Vor dem Fährterminal – es sieht aus wie eine in den 1950er Jahren gebaute, verkleinerte Version der Admiralität in St. Petersburg – läuft sich eine Schnellfähre des Typs »Kometa« warm. Trotz ihrer mindestens 40 Jahre wirkt sie immer noch auf exzentrische Weise schnittig; die Form des Tragflächenbootes scheint jener der Tümmler nachempfunden. Ein dreifaches Tuten, das Schiff legt rückwärts in großem Bogen ab, um dann in der Mitte des Hafens die Fahrtrichtung zu wechseln und auf das Meer hinauszusteuern. Fahrgäste und zurückbleibende Familienangehörige winken sich noch einmal zu, dann zerstreuen sich die Zuschauer und auf dem Kai kehrt wieder Ruhe ein.

 

In Batumi endete die Eisenbahnlinie aus dem aserbaidschanischen Baku

 

Hinter dem Fährterminal macht der Weg einen Knick. Überraschend verbreitert er sich zu einer kurzen Hafenpromenade mit dahinter liegendem Grünstreifen – Traum aller Müßiggänger. Hier sind tatsächlich alle Bänke besetzt. Aber die Passanten sind Profis. Macht jemand Anstalten seinen Platz zu verlassen, so beschleunigen sie unauffällig ihren Schritt und nähern sich scheinbar zerstreut aber dennoch zielstrebig der Bank.

 

Handelte es sich um falschen Alarm, drehen sie wieder ab und schlendern von dannen, um sich eine Handvoll Sonnenblumenkerne oder ein, zwei Zigaretten zu erstehen. Angler sitzen auf Pollern, eine ältere Händlerin bietet Sesamgebäck feil. Um sich etwas auszuruhen, nimmt auch sie auf einer Bank neben einer würdig aussehenden Dame mit Handtasche Platz und vertieft sich mit ihr in ein Gespräch. Scheinbar sind beide alte Bekannte. Erst bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass die Verkäuferin sich aus dem Kaffeesatz lesen lässt.

 

Auf den am Kai liegenden Schiffen ist nicht viel los. Die Besatzung des Schleppers »Medea« spielt Karten, der Kapitän der benachbarten »Tamara« geht gerade an Bord. Auf einem neu aussehenden Schwimmkran fegt die Frau des Besitzers mit einem kleinen Handbesen das Deck. Auf der anderen Seite des Hafens wird ein Schüttgutfrachter mit Schaufelkränen beladen, ein Anblick den man in Deutschland kaum mehr zu sehen bekommt. Der Frachter liegt hoch im Wasser, das Kranballett wird wohl noch ein paar Tage andauern.

 

Dahinter sieht man die großen runden Tanks des Ölhafens. Seine Einrichtung brachte in den 1880er Jahren Batumis Ausbau von einem kleinen Küstenort zur bedeutenden Hafenstadt mit sich. Hier endete die Eisenbahnlinie aus dem aserbaidschanischen Baku. Auf ihr wurde das am Kaspischen Meer geförderte Öl quer durch den Kaukasus an die Küste des Schwarzen Meeres transportiert, dort weiterverarbeitet und dann auf Tankschiffe verladen.

 

Trotz der inzwischen gebauten Pipelines ist die Linie immer noch in Betrieb, wie die endlosen Reihen ölverschmierter Kesselwaggons bezeugen. Im Zuge des gründerzeitlichen Ölbooms verzehnfachte sich die Einwohnerzahl der Stadt von 1878 bis 1903 auf 30.000 Menschen. Firmen wie die Nobel Brothers oder Siemens und Halske eröffneten Niederlassungen in Batumi. Allerdings waren die Arbeitsbedingungen in den Raffinerien und Terminals alles andere als rosig.

 

Unter den Sozialrevolutionären Batumis machte sich der junge Josef Dschugaschwili nicht allzu beliebt

 

Der aufstrebende Berufsrevolutionär Josef Dschugaschwili (ab 1912 nannte er sich Stalin – »der Stählerne«) sah diese gerade deshalb als vielversprechendes Tätigkeitsfeld für seine Agitationstätigkeit. Er übersiedelte im Jahre 1901 nach Batumi. Unter den dortigen Sozialrevolutionären machte er sich allerdings nicht allzu beliebt. Zum einen bemühte er sich stets um einen wirkungsvollen Auftritt, zum anderen versuchte er auf den Sitzungen immer, das letzte Wort zu haben.

 

Ob seiner Rolle bei mehreren Streiks und einem Sturm auf das örtliche Gefängnis wurde er bereits im Jahre 1902 verhaftet und in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Ein etwas verstaubtes Museum unweit des Hafens erinnert immer noch an den Aufenthalt des späteren großen Diktators in der kleinen Küstenstadt. Wer weiß, vielleicht hätte die Weltgeschichte einen anderen Gang genommen, wenn der Stählerne sich ab und an bei einer Tasse des guten einheimischen Kaffees am Panorama von Hafen und Bergen erfreut hätte.

 

Die Gäste des am Ende der Hafenpromenade gelegenen Terrassencafés sehen jedenfalls nicht so aus, als ob sie finstere Pläne ausbrüten würden. Während man ansonsten in Georgien vornehmlich Tee trinkt, ist Batumi landesweit für seinen türkischen Kaffee berühmt. Auf die Bestellung antwortet die Bedienung allerdings mit einem Kopfschütteln. Nein, türkischer Kaffee sei nicht im Angebot, aber vielleicht könne es ein Tässchen nach georgischer Art sein? Der sei ohnehin viel besser.

 

Natürlich, man hätte es wissen müssen, schließlich wechselt das aus puderfeinem Kaffeemehl bereitete Heißgetränk vom Balkan an abwärts bei jeder Landesgrenze seinen Namen. Derart gestärkt kann man sich nun auf den Rückweg ins Hotel machen. Bei gut gefülltem Geldbeutel wird man vielleicht in einem der beiden ersten Häuser am Platz abgestiegen sein. Das ältere der beiden wurde anlässlich jener Konferenz der »großen Drei« gebaut, die dann doch kurzfristig nach Jalta auf der Krim – also die andere Seite des Schwarzen Meeres – verlegt wurde.

 

Statt in Schleiflack und Nussbaum präsentiert sich das Interieur des ehemaligen Konferenzhotels jedoch längst in zeitgemäßem Design. Konkurrenz bekam das Haus erst durch einen im Jahre 2010 eröffneten Hotelturm, dessen eigenwillige aber nicht völlig unansehnliche Architektur (die stilistisch am ehesten als eine Synthese aus spätem Stalin-Barock und frühem Dubai-Funktionalismus beschrieben werden kann) es zu einem Wahrzeichen für den Umbau der Stadt gemacht hat. Die Freundlichkeit und Professionalität der Angestellten ist beeindruckend.

 

Trotzdem der georgische Präsident dort gerade zu einem seiner häufigen Kurzbesuche weilt, läuft der normale Betrieb unbeirrt weiter. Die Sicherheitsmaßnahmen wirken geradezu bescheiden. Nur ein paar schwarze Wagen auf dem Parkplatz sowie die Scharfschützen auf dem Dach gegenüber weisen auf jenen prominenten Gast hin, der den Ausbau Batumis zur Chefsache gemacht hat. Diesmal ist es jedoch nicht Öl, sondern die »weiße Industrie« des Tourismus, die für einen erneuten Aufschwung sorgen soll.

 

Dies sieht auch die adscharische Regionalregierung so. Bei Batumi handelt es sich nämlich nicht nur um einen Hafen- und Urlaubsort, sondern auch um die Hauptstadt des teilautonomen Gebiets Adscharien, gelegen ganz im Südwesten Georgiens.

 

Tiflis hält Adscharien heute wieder an der kurzen Leine

 

Zu Sowjetzeiten hatten dessen Bewohner unter der Nähe zum Eisernen Vorhang zu leiden. Gleich hinter der Stadtgrenze Batumis begann das Sperrgebiet, da die Grenze zur Türkei (und damit auch zur NATO) nur 30 Kilometer entfernt ist. Nach der Unabhängigkeit Georgiens im Jahre 1991 sah es so aus, als ob auch Adscharien dem Weg der anderen teilautonomen Gebiete Süd-Ossetien und Abchasien in Richtung Loslösung vom georgischen Staat folgen könnte. Dieser Schritt fand jedoch nicht statt.

 

Dem Präsidenten des Lokalparlaments, Aslan Abashidze, erschien es sinnvoller, der Region innerhalb Georgiens größtmögliche Autonomie zu verschaffen. Tatsächlich erlebte Adscharien einen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem der Politiker und seine Familie sichtbar profitierten. Abashidze selber sammelte Villen und seltene Hunde, während sein Sohn als Bürgermeister Batumis mit dem Lamborghini durch die Stadt brauste. Ihr selbstherrliches und autoritäres Auftreten machte die lokale Herrscherfamilie jedoch bei der Bevölkerung zunehmend unbeliebt.

 

Kritiker lebten gefährlich. Sie mussten mit ihrer Ermordung oder »Bestrafung« durch Schlägertrupps oder Paramilitärs rechnen. Im Frühjahr 2004 spitzte sich die Lage zu. Während in Batumi stattfindende Demonstrationen immer mehr Zulauf erhielten, entzog Russlands Präsident Putin dem langsam unhaltbar werdenden Abashidze seine Unterstützung. Kurz darauf erzwang dann der neu gewählte georgische Präsident Saakashwili unter Androhung militärischer Maßnahmen dessen Rücktritt.

 

Adscharien wurde kurzfristig aus Tiflis regiert, dann kam das neu gewählte Regionalparlament wieder zusammen. Wirkliche Befugnisse hat es jedoch nicht. Der Premierminister Adschariens wird inzwischen auf Vorschlag des georgischen Präsidenten ernannt und kann jederzeit Parlamentsbeschlüsse suspendieren. Dennoch sind die Abgeordnetenplätze äußerst begehrt. Eine geringe Arbeitsbelastung, gute Bezüge und eine garantierte Rente erscheinen durchaus verlockend.

 

Nicht zuletzt sollen sie den Politikern der weiter nördlich gelegenen und mit Russland verbandelten abtrünnigen Provinz Abchasien zeigen, welche Vorteile sich ihnen bei einer Wiedervereinigung mit Georgien böten. Die Stabilisierung der Lage in Adscharien machte dieses jedenfalls für türkische Investoren interessant, und so werden mit ihrem Geld nach dem ersten Hotelturm weitere Nobelherbergen und Appartementblöcke hochgezogen.

 

Die Regionalregierung ist auf dem Gebiet des Tourismus äußerst umtriebig und bemüht sich, für jeden ein passendes Angebot bereitzustellen. Naturfreunde und Glücksspieler können hier gleichermaßen auf ihre Kosten kommen. Auch die Infrastruktur wurde verbessert. Eine sichere Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie moderne Kläranlagen waren bis vor kurzem keine Selbstverständlichkeit. Vom nahe gelegenen Regionalflughafen kann man in zwei Stunden Istanbul und in einer Stunde Tiflis erreichen. Mit den neuen Komfortzügen chinesischer Bauart dauert die Fahrt in die georgische Hauptstadt fünf Stunden, auch dies eine Verbesserung zu früheren Zeiten.

 

Die neue Zielgruppe für den Tourismus sind kaufkräftige und amüsierwillige Iraner

 

Die neben Georgiern, Türken und Russen größte Zielgruppe wohnt allerdings noch weiter südöstlich, nämlich im Iran. Kaufkräftige und amüsierwillige Iraner geben ihr Geld bisher eher in Aserbaidschan und Armenien als in Georgien aus. Vor allem in Jerewan ist zu Zeiten des persischen Nouruz-Festes kein Zimmer mehr zu bekommen. Es sind vor allem jüngere Iraner, die das Savoir-vivre in den Straßencafés der armenischen Hauptstadt zu schätzen wissen.

 

Nach Schleiern fragt dort keiner, und armenische Aprikosen, Rotwein und Brandies sind zu Recht bis weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Allerdings verfügt Armenien über keine Küste. Warum, so überlegte man sich in Georgien, sollte man den iranischen Touristen nicht zusätzlich die Möglichkeit geben, an einer Strandpromenade zu flanieren oder die aktuelle Bademode am Meeresstrand vorzuführen? So fährt nun ein durchgehender Nachtzug von Jerewan bis Batumi, in dessen Hotelzimmern nirgends ein grüner, die Richtung nach Mekka anzeigender, Pfeil zu erblicken ist.

 

Stattdessen beherbergen die Fünf-Sterne-Häuser Nachtklubs und Spielcasinos. Nicht alle Einwohner sind jedoch mit dieser Entwicklung einverstanden. Die Bautätigkeit und Neustrukturierung der Stadt werden mitunter kritisch beurteilt. Manch alteingesessener Bewohner fühlt sich an den Rand gedrängt. Und ob sich all die entstehenden Appartements und Hotelzimmer dauerhaft mit Menschen füllen werden, erscheint fraglich. Inzwischen kann man in Batumi mehrere Stadtviertel deutlich voneinander unterscheiden.

 

Entlang der neu angelegten Verlängerung der Strandpromenade in Richtung Flughafen finden sich die unlängst errichteten Appartementblöcke an denen riesige Schilder mit traumhaft niedrigen Quadratmeterpreisen um Käufer werben. Dass die Zahlen nicht der Realität entsprechen, weiß in der Stadt jeder. Die Attraktion dieses Viertels ist die Themenarchitektur der ebenfalls neu errichteten Restaurants nahe der Promenade.

 

Dass der griechische Tempel ein griechisches und die chinesische Pagode ein chinesisches Restaurant beherbergen erscheint dabei durchaus nachvollziehbar. Warum sich in der holländischen Windmühle jedoch ein Stripklub befindet, das bleibt schleierhaft. Hinter der Universität beginnt dann die Altstadt, deren Häuserfassaden zum Großteil bereits neu verputzt und verklinkert wurden.

 

In unmittelbarer Nähe zur Universität soll sich laut Stadtplan auch jenes Haus befinden, in dem Sergej Jessenin einen Monat des Jahres 1924 verbrachte, und das nun angeblich ein Museum zu seinen Ehren beherbergt. Zunächst scheint es, als hätte es einem Neubau weichen müssen, dann findet sich aber doch noch die aus sowjetischer Zeit stammende Erinnerungstafel neben einem Hauseingang. Dessen Gittertor ist allerdings verschlossen. Auch der dahinter bellende Hund scheint mit dem Besuchswunsch überhaupt nicht einverstanden.

 

Die georgischen Weißweine tragen Namen wie Kisi, Rkatsiteli oder Mtsvane

 

So geht es also weiter in die Altstadt hinein. Allerdings scheint diese etwas ausgestorben. Vielleicht ist hier einfach nicht viel los, vielleicht wurden einige der Bewohner durch Immobilienspekulanten aus ihren Wohnungen gedrängt. Man kann es den Häusern von außen nicht ansehen. Wer nicht im Hotel wohnen möchte, kann hier jedoch weiterhin kleine Pensionen und Gästezimmer finden, die für einen nicht allzu hohen Aufpreis meist auch recht verträgliche Mahlzeiten anbieten.

 

Etwas weiter gähnt die »Piazza« vor Leere, ein von Neubauten umgebener Platz im Zentrum der Altstadt, dessen Gestaltung sich stilistisch vage an toskanische Städte anlehnt. Nichts erinnert einen hier an den Kaukasus, die »Piazza« könnte sich genauso gut in Anaheim, Sydney oder Mumbai befinden. Damit verleiht sie Batumi etwas internationales Flair, verbreitet aber gleichzeitig nur die völlige Ortlosigkeit des Simulakrums. Zum Hafen hin gruppieren sich dann um den Platz vor dem lokalen Schauspielhaus einige etwas baufällige Plattenbauten der Chruschtschow-Ära. (Die in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ihrer Entstehungszeit entsprechend als »Chruschtschowki« bezeichnet werden.)

 

Das Schauspielhaus hingegen stellt ein gut renoviertes, durchaus ansehnliches Stück Architektur der 1950er Jahre dar, allerdings wird seine Wirkung etwas durch die Leuchtfassade eines unlängst daneben errichteten Spielcasinos beeinträchtigt. Hinter dem Hafen beginnt dann das türkische Viertel. Blitzsaubere Lokantas, düstere Höhlen, Simit-Bäcker und Teestuben wechseln sich mit kleinen Geschäften ab. Selbst eine Moschee ist hier zu sehen, ein im ansonsten christlich geprägten Georgien eher ungewohnter Anblick.

 

Noch etwas weiter finden sich wieder die bekannten Chruschtschowki, in denen ein nicht geringer Teil der Stadtbevölkerung lebt. Versteckt zwischen ein paar Lagerhallen und Plattenbauten liegt dort auch die zweistöckige städtische Markthalle. Sie ist einen Besuch wert. Handgemalte Tafeln unter der Decke zeigen an, was die Händler in dieser oder jener Ecke verkaufen. Käse, Butter, Geflügel, Eier, Gewürze, Gemüse, Obst; scheinbar gibt es nichts Essbares, das hier nicht angeboten wird. Bleibt man interessiert an einem Stand mit bratfertigen Ferkeln stehen, greift die Marktfrau kurz unter den Tisch um einem mit Schwung weitere Exemplare zur Begutachtung unter die Nase zu knallen.

 

Der Fischmarkt hingegen befindet sich auf einem anderen Gelände. Dort kann man morgens seinen Fisch auswählen, auf Wunsch wird er dann abends bereits fertig gebraten ins Haus geliefert. Dazu passen am besten die hervorragenden georgischen Weißweine, die so exotische Namen wie Kisi, Rkatsiteli oder Mtsvane tragen, jedoch mitunter auf recht angenehme Weise an süditalienische oder leichte französische Gewächse erinnern.

 

Ab Oktober haben die Einwohner Batumis die Bänke auf der Hafenpromenade wieder für sich

 

Wenn man das Glück hat von Georgiern nach Hause eingeladen zu werden (und die Georgier rühmen sich zu Recht ihrer hervorragenden Gastfreundschaft!) wird man unweigerlich Wein aus familiärer Herstellung eingeschenkt bekommen. Nun gilt es, das angeregte Gespräch mit den Tischnachbarn ab und an zu unterbrechen, um den sinnigen Trinksprüchen des »Tamada« genannten Tischvorstehers zu lauschen. Die ersten zehn Trinksprüchen ergehen in festgesetzter Reihenfolge (beim Toast auf die Frauen stehen alle Männer auf!).

 

Danach folgt ein freies Improvisieren. Je später der Abend, umso mehr muss der Tamada um die Aufmerksamkeit der sich immer angeregter unterhaltenden Gäste buhlen. Sollte man dann am nächsten Tag feststellen, dass es vielleicht doch kein guter Gedanke war, das Glas beim letzten Trinkspruch bis zur Neige auszutrinken, dann ist es an der Zeit, das adscharische Leibgericht zu probieren. Beim »Chatschapuri Adscharuli« handelt es sich um einen schiffsförmigen Fladen aus Hefeteig mit aufgedrehten Rändern, der mit frischem Käse angefüllt wird.

 

Nachdem er aus dem Ofen gezogen wurde, wird ein frisches Ei darüber geschlagen das von der in Fladen und Füllung gespeicherten Hitze gart. Zuletzt kommt noch ein guter Klacks Butter dazu, und nun kann man sich an das Verspeisen des großzügig bemessenen Gerichtes machen. Eine Verwandtschaft mit der türkischen Pide erscheint nahe liegend, wird jedoch kategorisch verneint. Mit diesem Mahl im Bauch kann man sich nun mit bestem Gewissen auf die Rückreise machen, der Hunger wird einen so schnell nicht wieder quälen.

 

Sollte man dann im Sommer wiederkehren, böte sich einem ein ganz anderes Bild. Stadt und Promenade sind überfüllt, aus den Lautsprechern der Buden und Bars plärrt und stampft die Musik und kaum ein Luftzug bietet Kühlung. Träge suppt das Schwarze Meer an den Kieselstrand und nicht selten entlädt sich die tropische Hitze in einem Gewitter. Dafür kommen die Freunde des Nachtlebens nun auf ihre Kosten. Ende August, Anfang September reisen die meisten Feriengäste dann wieder ab.

 

Noch bis in den Oktober finden sich warme Tage, und statt Bratgeruch kann man auf der Promenade wieder die Kiefern riechen. Die Zimmerpreise gehen auf ein erträgliches Maß zurück, und die Einwohner Batumis haben die Bänke auf der Hafenpromenade wieder weitgehend für sich. Aber nur bis zum nächsten Sommer. Wie jedes Jahr.

Von: 
Arne Segelke

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