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Gaza und der Krieg

Gaza braucht eine Zukunft!

Analyse

Es ist eine fatale Illusion, den Gazastreifen durch regelmäßige Bombardierung in die Knie zu zwingen. Nur wenn der Bevölkerung ein Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage ermöglicht wird, kann dem Extremismus der Nährboden entzogen werden.

Alle Jahre wieder häufen sich die Nachrichten von israelischen Angriffen auf und Hamas-Raketen aus Gaza. Allein in den vergangenen acht Jahren gab es vier großangelegte israelische Operationen, von »Sommerregen« 2006 über »Gegossenes Blei« 2008/2009, »Wolkensäule« 2012 hin zur aktuellen, andauernden Operation »Schutzrand«. Trauriges Ergebnis ist dabei stets eine hohe Zahl an palästinensischen Todesopfern, die Zerstörung lebensnotwendiger Infrastruktur und eine zutiefst traumatisiert zurückbleibende Bevölkerung in Gaza.

 

In den Zeiten dieser Operationen fragen sich internationale Medien wieder und wieder, wie Gruppierungen im Gazastreifen der absurden Idee verfallen können, gegen israelische Zivilisten Raketen aus dem Gazastreifen abzufeuern. In der Tat ist dieser Ansatz verwerflich. Auch wenn die »hausgemachten« Raketen weitgehend ineffektiv sind und auf offenen Feldern landen oder vom israelischen Raketenschutzschild »Iron Dome« abgefangen werden – die Intention, Zivilisten zu terrorisieren, ist ohne Zweifel abscheulich.

 

Aus Sicht vieler Menschen im Gazastreifen sind die Raketen jedoch die einzige Möglichkeit, sich in ihrer absolut verzweifelten Lage Gehör zu verschaffen. Nur wenn Raketen fliegen, so ihre Auffassung, schaut die Welt auf Gaza. Gaza ist durch die israelische Blockade und die feindliche Haltung der ägyptischen Regierung komplett von der Welt abgeschnitten. Die Mehrheit der etwa 1,7 Millionen Menschen in Gaza hat in ihrem Leben das kleine Stück Land noch nie verlassen können. Die humanitäre Katastrophe ist in Gaza Dauerzustand und ist direkt auf die Besatzung zurückzuführen.

 

Über 70 Prozent der Bevölkerung Gazas ist abhängig von Nahrungsmittelhilfe der UN, es gibt kaum Trinkwasser, kaum Benzin, völlig unzureichende medizinische Versorgung, viel zu wenig Schulraum und selten Strom. Die Arbeitslosigkeit ist gravierend hoch, die Wirtschaft nahezu zerstört. Weil kaum Baumaterialien in den Gazastreifen kommen, werden für Neubauten mühsam Steine geklopft. Kinder suchen behelfsmäßig auf dem Gebiet der ehemaligen israelischen Siedlungen nach Metallteilen und Steinen.

 

Die dringende Warnung der Vereinten Nationen, dass Gaza bis 2020 lebensunfähig sein wird, ist weitgehend verhallt. Während der Friedensgespräche um US-Außenminister John Kerry war Gaza kein Thema. Israel lässt nur ein Minimum an Hilfsgütern nach Gaza hinein, Exporte sind unmöglich. Israel fühlt sich für Gaza nicht zuständig. Wenn Diplomaten oder Entwicklungshelfer nach Gaza einreisen, bekommen sie am israelischen Grenzübergang Erez einen Ausreisestempel in den Pass. Faktisch kontrolliert Israel jedoch sämtliche Land- und Seegrenzen und den kompletten Luftraum Gazas.

 

Aus völkerrechtlicher Sicht ist Gaza daher weiterhin durch Israel besetztes Gebiet. Nach der Haager Konvention von 1907 ist das entscheidende Merkmal die »effektive Kontrolle«. Nach der Vierten Genfer Konvention ist Israel als Besatzungsmacht weiterhin für die Sicherheit und humanitäre Versorgung der Bevölkerung in Gaza verantwortlich. Jedoch betrachten weite Teile der israelischen Gesellschaft die Bevölkerung in Gaza als »feindliche Bevölkerung«, die Blockade Gazas seit der Machtübernahme der Hamas gleicht einer Kollektivstrafe und wird von Israel auch unumwunden als »wirtschaftliche Kriegsführung« bezeichnet.

 

Ein Knesset-Mitglied ruft im Eifer des aktuellen Gefechts sogar zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens auf. Dass die Mehrheit der Bevölkerung in Gaza unter 18 Jahre alt ist und mit der Hamas nichts am Hut hat, wird von ihm und vielen anderen dabei komplett außer Acht gelassen. Die Unmöglichkeit, hungrige, eingesperrte Menschen zum Frieden zu bombardieren, wird in großen Teilen der israelischen Gesellschaft und der Regierung scheinbar nicht verstanden.

 

Die Vorstellung, durch regelmäßige »Shock and Awe«-Kampagnen den Gazastreifen zu befrieden (von manchen im IDF befremdlich als »regelmäßiges Rasenmähen« bezeichnet), wenn die Verzweiflung dort in Anbetracht der katastrophalen humanitären Umstände immer größer wird, entzieht sich jeder Rationalität. Um sich eine Zukunft in Frieden mit Israel vorstellen zu können, muss sich die Bevölkerung in Gaza überhaupt erst mal eine Zukunft vorstellen können.


Jakob Rieken ist Projekt-Manager bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem. Der Artikel stellt die Meinung des Autors dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Von: 
Jakob Rieken

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