Irans Führung drängt die Bevölkerung, wieder mehr Kinder zu bekommen. Neben einigen Entlastungen für verheiratete Eltern diskriminieren die Pläne aber diejenigen, die nicht in das Familienbild passen – und benachteiligen Frauen im Beruf.
Schluss mit kostenlosen Vasektomien und Sterilisationen. Und auch keine Verteilung von Kondomen und anderen Verhütungsmitteln mehr. Die radikalen Maßnahmen, die die iranische Regierung seit Anfang 2013 verhängt hat, sollen wohl denjenigen Iranern auf die Sprünge helfen, die dem Appell ihres Revolutionsführers Ali Khamenei vom Oktober 2012 kein Gehör geschenkt haben. Mit seiner Rede hatte Khamenei den dramatischsten Richtungswechsel in Irans Bevölkerungspolitik seit 20 Jahren eingeläutet: hin zu mehr Kindern.
»Weniger Kinder, ein besseres Leben«: Mit solchen Parolen hatte Schah Mohammed Reza
Pahlavi in den 1960er Jahren eine vergleichsweise restriktive Bevölkerungspolitik begonnen. Diese wurde nach der Revolution 1979 von Ruhollah Khomeini prompt kassiert. In den 1980er Jahren schnellte Irans Fruchtbarkeitsziffer – also die durchschnittlich Anzahl von Kindern, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommt – daraufhin auf 3,6 Kinder empor. 1988 sagten Prognosen eine Verdopplung der Bevölkerung innerhalb von 20 Jahren voraus – kaum zu bewältigen für das von acht Jahren Krieg gebeutelte Land. Khomeinis Nachfolger Ali Khamenei schwenkte daher wieder auf den alten Kurs um: »Zwei Kinder sind genug«, empfahlen die Behörden fortan.
Im Jahr 2013 besaß die Islamische Republik etwa 77 Millionen Einwohner bei einer durchschnittlichen Fruchtbarkeitsziffer von 1,8 – Tendenz fallend. Mit anderen Worten: Langfristig schrumpft die Bevölkerung Irans. Bereits in 20 Jahren könnte das Bevölkerungswachstum von derzeit 1,24 Prozent auf null fallen. Sind die staatlichen Familienplaner also über das Ziel hinausgeschossen, oder haben sich einfach die Lebensgewohnheiten der Bürger verändert?
Anwälte erhalten künftig Bonuszahlungen, wenn sie ihre Mandaten von der Scheidung abbringen
Zumindest Irans Parlamentarier scheinen zu glauben, dass eine staatlich verordnete Kurskorrektur den demografischen Trend drehen kann. Ein neues Gesetz, das im Juli 2013 vom Wächterrat abgesegnet wurde, will die Iraner wieder auf eine aktivere Nachwuchsförderung verpflichten. Es legt sogar gleich eine Zielmarke fest: Spätestens im Jahr 2025 soll eine iranische Frau durchschnittlich 2,5 Kinder zur Welt bringen.
Aber schon jetzt fällt alles, was den angestrebten Wachstumszielen im Weg steht, dem Rotstift zum Opfer. Dies könnte ebenso unbeabsichtigte wie dramatische Folgen haben: Die restriktivere Kondom-Politik dürfte weniger dazu führen, dass der Kinderreichtum sprunghaft ansteigt, sondern vielmehr die Ansteckungsraten von Geschlechtskrankheiten erhöhen. Laut der iranischen NGO »Hepatitis-Netzwerk« läuft schon jetzt jeder 200. Iraner Gefahr, sich mit Hepatitis C zu infizieren, und bereits 3 Prozent der Bevölkerung seien positiv auf Hepatitis B getestet.
Insbesondere für junge Frauen kann die forcierte Familienpolitik weitere, lebensbedrohliche Konsequenzen haben: Wer ungewollt schwanger wird, kann kaum Hilfe vom Gynäkologen erwarten und sieht womöglich keinen anderen Ausweg als eine illegale Abtreibung, die keinerlei medizinische Standards erfüllt. Auch die Aufklärung wird zurückgefahren: Noch bis 2012 musste jeder Bachelor-Student in Iran den Kurs »Familien- und Bevölkerungsplanung« besuchen.
Diese Art Sexualkundeunterricht war – selbst für aufgeklärte Großstädter – oft die einzige Möglichkeit, legal an Literatur zu dem Thema zu kommen. Weil Begriffe wie »Sex« und »Verhütung« in den Filtereinstellungen der iranischen Internet-Zensoren weit oben rangieren, bot das World Wide Web da kaum Abhilfe. Der Kurs hielt sich zwar an die Geschlechtertrennung, machte aber Männer wie Frauen gleichermaßen mit allen gängigen Verhütungsmethoden vertraut. Mancher Kursteilnehmer nutzte die Gelegenheit, die verwendete Fachliteratur älteren Familienmitgliedern zugänglich zu machen. 2013 wurde der Kurs ersatzlos aus dem Lehrplan gestrichen.
Khamenei plädiert öffentlich zwar für ein »ausgewogenes und rationales Bevölkerungswachstum«, dennoch verdammt er im gleichen Atemzug die vielen Maßnahmen zu Sexualaufklärung und Empfängnisverhütung in den vergangenen beiden Jahrzehnten als »unverzeihlichen Fehler«. Der Revolutionsführer genießt dabei die Unterstützung sowohl des religiös wie national-konservativen Lagers.
Eine beliebte Verschwörungstheorie, die sowohl in den Seminaren von Qom wie den Parlamentskammern von Teheran Anklang findet, sieht hinter dem Gedanken der Geburtenkontrolle die westlichen Feinde Irans am Werk, die das Land mittels Bevölkerungsschrumpfen schwächen wollten. Im Bestreben, den Kurswandel der Bevölkerung schmackhaft zu machen, verzichtet der Gesetzestext immerhin auf nebulöse Schuldzuweisungen und blumige Morallektionen.
Stattdessen sehen die insgesamt 50 Artikel eine Reihe von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie vor, die Frauen mehr Freiraum zum Kinderkriegen ermöglichen sollen. So weitet der Gesetzgeber die voll bezahlte Mutterschutzzeit auf neun Monate aus, und während der Schwangerschaft kann eine Frau per Attest jederzeit Krankenurlaub einreichen. Für den Wiedereinstieg ins Berufsleben sollen zudem Kontingente extra für Frauen geschaffen werden.
Neu ist auch die Möglichkeit für Männer, zehn Tage Vaterzeit in Anspruch zu nehmen. Sind beide Eltern berufstätig und können keinen Babysitter auftreiben, so können sie nun auch von den Gemeinden einen Kinderbetreuungsplatz beanspruchen. Auch die Institution Ehe will der Gesetzgeber mit finanziellen Anreizen ausstatten, etwa mit doppelt so hohen Studienkrediten für verheiratete gegenüber alleinstehenden Studenten.
Von 23 Millionen Iranern im heiratsfähigen Alter sind lediglich 11 Millionen unter der Haube, das durchschnittliche Heiratsalter liegt inzwischen bei Ende 20. Neben günstigen Kreditkonditionen sollen potenzielle Eltern auch mit niedrigen Einkommenssteuern, Goldmünzen und in ländlichen Gegenden gar mit Landbesitz belohnt werden.
Manche sehen in Geburtenkontrolle eine Verschwörung der »westlichen Feinde« Irans, um das Land zu schwächen
Trotz dieser entlastenden Intention der Reform diskriminiert das Gesetz aber vor allem diejenigen, die nicht in das angestrebte Familienkonzept passen – und erschwert ihnen nicht nur den Zugang zu Krediten, sondern auch zu Arbeitsplätzen. Im öffentlichen Dienst etwa dürfen alleinstehende Bewerber künftig nur berücksichtigt werden, wenn keine geeigneten verheirateten Anwärter zur Verfügung stehen. Ähnlich restriktive Einstellungskriterien gelten für die nächsten fünf Jahre auch für den Hochschulbereich – sowohl an staatlichen wie privaten Lehranstalten.
Arbeitgeber in der Privatwirtschaft werden mit einem sechsprozentigen Nachlass für Sozialversicherungszahlungen belohnt, sollten sie dieses Regelwerk für ihren Betrieb übernehmen. Die Ehe zu fördern, heißt für den Staat auch, die Scheidungsrate zu senken – mit zweifelhaften Begleiterscheinungen. So soll die Anwaltskammer ihren Mitgliedern künftig Bonuszahlungen für jeden Fall in Aussicht stellen, in dem es den Advokaten gelingt, ihre Mandanten von der Eheauflösung abzubringen.
Ein Scheidungsurteil hätte so gesehen seinen Preis – und der Korruption wären Tür und Tor geöffnet, Frauen aus armen Familien hingegen der Zutritt verwehrt. Die wohl größte Schlagseite zeigt das Gesetz jedoch bei jenen, die in der Familienpolitik eigentlich im Mittelpunkt stehen: den Kindern. Denn weder Waisen noch Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt sind oder aus drogenabhängigen Familien kommen, haben eine Aussicht, ein neues Heim zu finden.
In Teheran gibt es rund 20.000 Straßenkinder, die sich mehr schlecht als recht über Wasser halten, oft mangelernährt sind und keine Chancen auf Bildung und sozialen Aufstieg besitzen. Eine Reform des Adoptionsrechts zum Wohl der Kinder könnte hier Abhilfe schaffen. Stattdessen offenbart sich hier das fundamentale Missverhältnis der neuen iranischen Familienpolitik: Denn Kinderreichtum beseitigt noch lange nicht Kinderarmut.