In Tunesien ist die regierende Ennahda-Partei dabei, das Land nach ihren Vorstellungen umzubauen. Das Bild des »gemäßigten Islamisten« bekommt einige Brüche, toleriert die Bewegung doch die Umtriebe der Salafisten, meint Werner Ruf.
Am 23. Oktober 2011 wählte das Volk in den ersten freien Wahlen seit der Unabhängigkeit 1956 eine verfassungsgebende Versammlung. Mit Abstand stärkste Kraft wurde die islamistische Ennahda, »die Wiedergeburt«, die während der Revolution nirgendwo in Erscheinung getreten war: Sie erhielt 91 der insgesamt 217 Sitze und bildete mit zwei kleinen, säkularen Parteien die Regierung.
Die bürgerliche Mitte und die linken Strömungen waren zersplittert mit über 80 Parteien und Listen angetreten. Statt nun den Prozess der Ausarbeitung einer Verfassung voranzutreiben, nutzt Ennahda ihre Macht: Die Posten der Provinzgouverneure wurden umgehend mit ihren Leuten besetzt. Das Mandat der verfassungsgebenden Versammlung endete am 23. Oktober dieses Jahres.
Der Führer der Ennahda, Rachid Ghannouchi, erklärte gegenüber zenith im September, dass mit der Fertigstellung der Verfassung nicht vor dem nächsten Frühjahr gerechnet werden könne, Neuwahlen könnten dann im Sommer stattfinden – Zeit genug, um das Land endgültig in den Griff zu bekommen.
Die fortschrittlichen Artikel der alten Verfassung sollen umgeschrieben werden: So soll die Frau nun »als Ergänzung des Mannes« erscheinen, während in der Verfassung von 1959 die Gleichberechtigung der Geschlechter festgeschrieben war.
Auch Abtreibung auf Wunsch der Frau war seitdem in Tunesien legal, die Kosten übernahm die gesetzliche Krankenkasse. In der Verfassung soll auch die Presse- und Meinungsfreiheit festgeschrieben werden, aber: Publikationen, die »die öffentliche Ordnung und Moral« verletzten, sollen unter Strafe gestellt werden – ein Gummiparagraph.
Salafisten stürmen Kunsthallen und besetzen Universitäten
Auch die Medien werden in die Mangel genommen: Die Direktorenposten von Rundfunk- und Fernsehanstalten werden mit Ennahda-Leuten besetzt, wogegen die Journalisten und Beschäftigten des größten Pressehauses As-Sabah seit Wochen in Streik getreten sind. Überhaupt sind die Gewerkschaften der Hauptfeind der Regierung, Ennahda-Abgeordnete fordern ein Streikverbot mit der Begründung, zunächst brauche man die »Einheit der Nation« und das Vertrauen vor allem ausländischer Investoren.
Über Lohnerhöhungen könne man später reden. Ganz offenkundig ist das Zusammenspiel zwischen Ennahda und teils gewaltbereiten Salafisten: Ausstellungen wurden zerstört, weil dort »unsittliche Darstellungen« gezeigt wurden, die Universität Tunis-La Manouba wird seit Oktober 2011 von Salafisten belagert, da Studentinnen mit Ganzkörper-Verschleierung zu Veranstaltungen und Prüfungen nicht zugelassen sind.
Auch fordern sie eine Geschlechtertrennung während des Unterrichts. Die Salafisten holten auf dem Universitätsgelände die Nationalfahne herunter und ersetzten sie durch die Flagge von Al-Qaida. Monate lang war die Polizei vor Ort und schaute dem Treiben zu: Sie hatte keinen Einsatzbefehl. Der Dekan muss sich demnächst vor Gericht verantworten, weil er eine der Studentinnen mit Niqab verprügelt haben soll, obwohl mehrere Zeugen bekunden, dass er zur fraglichen Zeit nicht auf dem Campus war.
In der Stadt Bizerta griffen Salafisten mit Säbeln und Dolchen eine pro-palästinensische Veranstaltung an, weil dort ein als pro-syrisch bezeichneter Palästinenser sprechen sollte, der 23 Jahre in einem israelischen Gefängnis verbracht hatte. Mehr als vierzig Personen wurden teils schwer verletzt. Die Polizei kam erst nach einer Stunde und nahm vier Personen fest, die am nächsten Morgen vom zuständigen Richter auf freien Fuß gesetzt wurden.
Der jüngste Skandal: Eine Frau war auf einer Polizeiwache von drei Polizisten vergewaltigt worden und wagte eine Anzeige. Sie steht nun selbst vor dem Richter wegen »Störung der öffentlichen Ordnung«.
Saudi-arabische Religionsschulen in Tunesien
Der bisherige Höhepunkt war der von Salafisten organisierte Angriff auf die US-Botschaft am 14. September. Aus dem Hinterland waren Busse organisiert worden, die Demonstranten in die Hauptstadt brachten. Diese Transporte wurden anscheinend von der Polizei ebenso wenig bemerkt wie der Marsch von mindestens zweitausend Demonstranten, die unter anderem Leitern und Molotow-Cocktails mit sich führten, von der Stadtmitte zur Botschaft, die nur von wenigen Polizisten geschützt wurde.
Die Demonstranten stürmten das Botschaftsgelände, setzten die amerikanische Schule und zahlreiche Autos in Brand. Erst die herbeigerufene Armee wurde der Angreifer Herr, sie tötete vier der Demonstranten. Nun erst sah sich Ennahda-Führer Rachid Ghannouchi veranlasst, die Gewalt zu verurteilen, nachdem er bis dahin die Salafisten »unsere Kinder« genannt hatte.
Der Grund für die Toleranz gegenüber fanatischen Islamisten dürfte in den hervorragenden Beziehungen Ennahdas nach Saudi-Arabien und Katar liegen, die die Partei finanziell unterstützen. Gleichzeitig duldet die tunesische Regierung die gezielte Verbreitung der wahhabitischen Lehre durch saudi-arabische Ausbildungslager im eigenen Land: Meist arbeitslose Vorstadt-Jugendliche erhalten stattliche Stipendien, um dort im »wahren Glauben« unterrichtet zu werden.
Die Staaten des Golfkooperationsrats versuchen, in den einst säkularen Staaten wie Tunesien, Libyen, Syrien einen fundamentalistischen Islam zu etablieren, um ihre politische Basis zu stärken. Und da die Islamisten von Ennahda konsequente Verfechter von Marktfreiheit und Neo-Liberalismus sind, bekommen sie flugs das Etikett »gemäßigt« verpasst. Der Abbau bürgerlicher Freiheiten geht als Kollateralschaden durch.