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Die Türkei und Russland und der Syrien-Konflikt

Eurasische Hassliebe

Analyse

Die Türkei und Russland pflegten in den vergangenen Jahren ein gutes Verhältnis. Doch der Syrien-Konflikt sorgt für ernsthafte Spannungen zwischen den beiden Regionalmächten. Dabei könnten beide Staaten eigentlich voneinander profitieren.

Ein Blick auf die Geschichte offenbart schnell, dass innige Beziehungen zwischen Türken und Russen nicht viel Tradition besitzen. Im ersten Weltkrieg standen die Einen auf Seiten der Mittelmächte, die anderen gehörten der Entente an. Und zu Zeiten des Kalten Kriegs stationierten die Amerikaner Atomraketen in der Türkei, welche die damalige Sowjetunion existenziell bedrohten. Beides sicherlich keine guten Voraussetzungen für eine Freundschaft zwischen Ankara und Moskau.

 

Doch nach Fall des Eisernen Vorhangs führte die beiden Staaten vor allem eine Sache zusammen – wirtschaftliche Interessen. Die Zahl wirtschaftlicher Konflikte lässt sich wohl kaum noch exakt nachvollziehen. Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele. So fußt das gesamte Konstrukt der europäischen Integration auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Was Westeuropa befriedete, schien zunächst auch zwischen der Türkei und Russland zu funktionieren.

 

Die neu eingeführte Marktwirtschaft im Nachfolgestaat der UdSSR heizte den Handel zwischen den beiden Ländern an, seit 1992 stieg er stetig. Dabei profitierte vor allem Russland von den Geschäften, da es fast 60 Prozent der türkischen Gasimporte deckt. Die Türken verdienen hingegen gutes Geld durch die zahlreichen russischen Touristen, die sich jährlich an den Mittel- und Schwarzmeer-Stränden niederlassen. Angetan von dieser positiven Entwicklung intensivierten die Staaten ihr Verhältnis.

 

Russland verkaufte Waffen an die Türkei für den Kampf gegen die kurdischen Rebellen, als die NATO-Verbündeten nicht liefern wollten. Danach halfen russische Ingenieure bei der Fertigstellung des ersten türkischen Atomkraftwerks. Eine Win-Win-Situation könnte für beide Länder eintreten, wenn die Türkei den Bau russischer Pipelines zulässt und dafür Hilfe beim Erschließen natürlicher Erdgasspeicher erhält. Zuletzt fiel häufig auch der Begriff »strategische Partnerschaft«.

 

Reibungsfläche im Kaukasus und Zentralasien

 

Das rasche Wachstum der Wirtschaftsbeziehungen wurde selbstverständlich auch von einem diplomatischen Prozess begleitet. Türkische und russische Politiker trafen sich regelmäßig auf höchster Ebene. Dies sollte wieder im Dezember vergangenen Jahres geschehen, als ein Empfang Wladimir Putins in Ankara bevorstand. Doch der Präsident sagte ab, denn die Länder drifteten in ihrer Position zum Bürgerkrieg in Syrien immer weiter auseinander.

 

Die Türkei hatte zuvor ein syrisches Zivilflugzeug mit russischen Passagieren zum Landen gezwungen, weil Kriegsgerät an Bord vermutet wurde. Weiterhin war die Stationierung von Patriot-Raketen den Russen ein Dorn im Auge. Türkische Diplomaten hatten zuvor vergeblich versucht, den Kreml von seiner Treue zum Assad-Regime abzubringen. Was bedeutet dieser Eklat nun für die zuvor so guten Beziehungen?

 

Das provokante Vorgehen der Erdogan-Regierung kann durchaus als Ausdruck eines neuen türkischen Selbstbewusstseins verstanden werden. Das Land an der Schwelle zwischen Europa und Asien hat in den letzten Jahren einen rasanten Wandel hinter sich gebracht. Sowohl wirtschaftlich, als auch militärisch sind der Türkei enorme Fortschritte gelungen. Das hat letztlich dazu geführt, dass sich die Nation zu einem regionalen Hegemon entwickelte. Allerdings überkreuzt sich genau diese Vormachtstellung mit russischen Interessen.

 

Dort gab es in jüngster Vergangenheit ebenfalls einen Aufschwung und die frühere Weltmacht strebt wieder vermehrt nach Einfluss im Nahen Osten sowie den UdSSR-Nachfolgestaaten im Kaukasus und Zentralasien – genau dort, wo die Türkei immer präsenter wird. Insbesondere ökonomische und politische Interessen sind hier von Bedeutung. Das riesige Land möchte nicht nur Technologie und Waffen verkaufen, sondern auch zeigen, dass es wieder zu alter Stärke gefunden hat. Genau hier entsteht sicherlich die größte Reibungsfläche zwischen den beiden erstarkten Nationen.

 

Zwei Sonderlinge auf internationalem Parkett

 

Vieles spricht zunächst aber auch gegen einen Konflikt in näherer Zukunft. Beide Staaten sind in ihrer Entwicklung bei Weitem noch nicht an ihre Grenzen gestoßen und befinden sich noch im Aufbau. So verhält es sich auch mit ihrer Machtfülle in der Region, sie können sich – noch nicht – auf die Füße treten. Im Moment besitzen die USA weitaus größeren Einfluss. Zudem sind die früheren Feinde nur auf den ersten Blick ein ungleiches Paar. Beide schwanken  und können – und wollen – sich nicht klar einem Lager zuordnen.

 

Zwar bestehen Beziehungen zu den USA und der EU, jedoch bandelt Russland in letzter Zeit verstärkt mit China an, während die Türkei merklich wenig Interesse an einer Aufnahme in die kriselnde EU mehr zeigt. Auch in der ohnehin nicht mehr so bedeutenden NATO gibt es befremdliche Gefühle. Weiterhin dürften die hohen wirtschaftlichen Profite auf beiden Seiten eher zu weiterer Integration führen.

 

Das Verhältnis der beiden mächtigsten Staaten im Herzen Eurasiens birgt also Gefahren, wenn sich ihre Einflusssphären weiter überschneiden. Besonders im Falle weiterer Kriege in der Region besteht hier ein Risiko. Vieles spricht im Moment noch gegen einen neuen Konfliktherd rund um den Kaukasus. Während Russland sein großes Wachstum fast ausschließlich aus Rohstoffexporten erhält und auf die Einnahmen angewiesen ist, kann die Türkei ohne diese Rohstoffe kaum wachsen und braucht zusätzlich Technologie. Ebenso sind beide auf internationalem Parkett gewissermaßen Sonderlinge, wodurch sogar eine politische Allianz naheliegend wäre.

Von: 
Oliver Imhof

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