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Biografie über David Ben-Gurion

Leidenschaftlicher Asket

Feature

Das Leben und Wirken von David Ben-Gurion füllt Bücherregale. Anita Shapira hat nun eine weitere, sehr persönliche, Biographie veröffentlicht – herausgekommen ist eine furiose Tour d’Horizon durch die Vita des israelischen Staatsgründers.

Israel, in den frühen 1970er-Jahren: Die junge Historikerin Anita Shapira fährt mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Sohn im Familienwagen, Marke Fiat 600, in die Negevwüste. Das Ziel des kleinen Familienausfluges ist Sdeh Boker, ein kleiner Kibbutz, oberhalb des Wadi Zin in der unwirtlichen Einöde zwischen Beerscheba und dem Gaza-Streifen gelegen. Feldforschung im weitesten Sinne. Sie hat einen Termin beim »Alten«, wie David Ben-Gurion in Israel genannt wird.

 

Die Wissenschaftsnovizin will den Staatsgründer zur »ha-Schomer – Die Wächter«-Bewegung befragen; allenfalls Fußnotenwert, doch der Staatsgründer hat zugesagt, obwohl er sich mit Mitgliedern dieser Wehrtruppe vor einem halben Jahrhundert überworfen hat. Einzig: die Tür – bleibt zunächst zu. Seine resolute Ehefrau Paula empfängt den Besuch, indem sie die Tür blockiert, um dann doch freien Eintritt mit den Worten »Langweile ihn nicht« zu gewähren.

 

Ben-Gurion nimmt sich mehrere Stunden Zeit, redet, alte Tagebücher in der Hand, über Gott, Israel und die Welt; Shapira ist fasziniert, fragt und hakt nach. Erst nach der Rückfahrt, bereits wieder in Tel Aviv angekommen, merkt sie, dass er ihre eigentliche Frage gar nicht beantwortet hat. Ben-Gurion, Schelm und Taktierer zugleich, hatte keine Lust auf das Thema. Mit dieser Anekdote beginnnt Anita Shapira, emeritierte Professorin der Universität Tel Aviv für zionistische Zeitgeschichte und weltweit prämierte Bestsellerautorin, ihre Biographie »Ben-Gurion. Father of Modern Israel«, die nun in der Reihe »Jewish Lives« der Yale-Universität erschienen ist.

 

Von Plonsk nach Palästina

 

Ihr eleganter Essay in brillianter Buchform – wie auch bei den anderen Publikationen dieser Reihe sticht die aufwendige Haptik sofort ins Auge – ist eine furiose Tour d’Horizon durch die Vita des homo politicus, die, gespickt mit Bonmots und neuen biografischen Details, Lesefreude(n) bereitet. Die Lebensreise beginnt im polnischen Plonsk, einer Kleinstadt, 65 Kilometer von Warschau entfernt.

 

Dort wird Ben-Gurion als David Grün, Rufname »Duvche«, als vierter Sohn von Scheindel – sie stirbt, als er elf Jahre alt ist – und Avigdor Grün geboren. Shapira zeichnet anschließend gekonnt die vielen Stationen des leidenschaftlichen Asketen nach, der nach eigenem Bekunden durch die Lektüre von Avraham Mapus »Zionsliebe« zum Zionisten, durch »Onkel Toms Hütte« zum Sozialisten und Tolstois »Auferstehung« zum Vegetarier geworden war.

 

1906 die Auswanderung nach Palästina, die wenig erquicklichen Versuche, in Petach Tikva, Zichron Jaakov und Sejara als malariakranker Landwirt von der Hände Arbeit zu leben, bis hin zur Gründung der ersten jüdischen Partei in Palästina, über das Jura-Studium in Konstantinopel, das er nach einem Zwischenaufenthalt in Thesaloniki 1912 beginnt, als das Osmanische Reich, dessen Staatsbürgerschaft er formal angenommen und dessen Sprache er fließend gelernt hat, längst zum »kranken Mann am Bosporus« avanciert ist und im Ersten Balkankrieg gegen Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro zu Felde zieht.

 

Auch Ben-Gurion zieht den Soldatenrock an, einige Jahre später, wird Soldat der »Jüdischen Brigade« im Ersten Weltkrieg, als er – zwischenzeitlich in den USA zum Ehemann und Vater einer Tochter mit dem Namen »Geula – Erlösung« geworden – auf der Seite des British Empire in der Schlacht von Galipoli kämpft.

 

»Gezeichnet: S. B. Jariv«

 

Shapira versteht, die vielen Reisen (1945 war er 249 Tage und im darauffolgenden Jahr 310 Tage außerhalb von Palästina für seinen Traum von Israel unterwegs) und politischen Aktivitäten (u.a. »White Paper«, »Altalena«- und »Lavon«-Affäre, Adenauer-Treffen, arabische Massen-Alija und Eichmann-Prozess) die Ben-Gurion in der Nachkriegsphase unternehmen sollte, als Gesamtbild zu beschreiben, dicht, aber nachvollziehbar.

 

Besonderes Augenmerk legt sie auf die privaten Aspekte in seinem Leben, die freilich stets auch politisch waren. Der bibliophile Ben-Gurion – man geht von mehr als 18.000 Büchern in seiner Privatbibliothek aus –, der seinem diplomatischen Corps stets Wunschlisten auf ihre Auslandsreisen mitgab, die diese penibel in den Buchläden der jeweiligen Destination einkauften, wird dadurch greifbarer, der Arbeiterführer, der zum Nationengründer avancierte, wird zum Menschen mit Stärken und Schwächen.

 

So berichtet Shapira von seiner Geliebten, Miriam Cohen, ebenso wie über seine Anstrengungen, dem neuen Staat, der die ägyptische Armee des König Farouk im Unabhängigkeitskrieg erst 32 Kilometer vor Tel Aviv hatte aufhalten können, eine Form zu geben, etwa in seinem Dekret aus dem Jahr 1948, in dem er das »Hebräische Sprachkommittee« aufforderte, Wörter für das gesamte Regierungssystem zu kreiren.

 

Auch veranlasste er die Hebräische Universität, dessen Staatshaushalt in den Anfangsjahren de facto fast nicht existierte, alle Manuskripte auf Mikrofilm zu speichen. Überall, wo etwas neues entstand im jungen Staat, so scheint es, war David Ben-Gurion mit dabei, oder gar der Initiator, meist eigensinnig. So war er es auch, der die Idee zur Gründung von Beerscheba hatte, die »Hauptstadt des Negev«. Als ein Expertenkommittee zu dem Fazit kam, das eine solche Retortenstadt in der Wüste nie entstehen könnte und der Platon-Verehrer gefragt wurde, was nun zu machen sei, antwortet er lakonisch: »Ernennt ein neues Komitee.« Alternativlos.

 

Der Begründer der »Mamlachtiut – Staatlichkeit«-Doktrin, der ein ähnliches Demokratieverständnis wie Adenauer und de Gaulle hatte, mischte zudem in allen gesellschaftlichen Debatten kräftig mit, polemisierte gegen den arbeiterzionistischen Antipoden Jitzchak Tabenkin, gegen Kommunisten ebenso wie die Revisionisten um Menachem Begin, gerne auch in Meinungsartikeln unter seinem Pseudonym »Gezeichnet: S. B. Jariv« – einem Akronym für das Hebräische »Saba schel Jariv – der Großvater von Jariv«.

 

Für seinen ersten Enkel sollte er ab 1953 Zeit haben, als er das Amt des Ministerpräsidenten erstmals aufgab. Eigentlich. Ben-Gurion zog sich in sein Altersdomizil nach Sdeh Boker zurück, hütete Schafe und lebte mit Kibbutzniks zusammen, die zwei Generationen jünger waren. Eine Nation stand unter Schock, tausende Bürger schrieben Briefe in die Wüste, darunter auch ein 13-jähriger Pfandfinder, dessen Sprachgewalt auffiel. Sein Name: Amos Oz.

 

Doch es kam anders: Ein letztes Mal sollte er, der Israel so lange regiert hat, wie kein anderer nach ihm (1949-1953 und 1954-1963), auf die politische Bühne zurückkehren, als Verteidigungsminister im Scharett-Kabinett. Sein Ansehen war weiterhin enorm, wie Shapira zeigt. Als sein Militärberater Nehemia Argov Suizid begang, lag Ben-Gurion im Krankenhaus – er wurde bei einem Anschlag eines geistig Verwirrten auf die Knesset verletzt – und die Zeitungen des Landes druckten extra für ihn eine Sonderausgabe, in welcher der Tod von Argov nicht vermeldet wurde.

 

Doch die große Zeit war Mitte der 1960er-Jahre vorbei; zuvor gewann er 1959 mit seiner Mapai-Partei und dem Slogan »Hagidu ken le-Zaken – Sagt ja zum Alten« 47 Knessetsitze und stellte wieder die Regierung. Ben-Gurion zog sich immer mehr zurück, nach dem Sechstagekrieg 1967 zumal, besonders jedoch nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973, der das Land in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Im Dezember jenes Jahres starb der Gründervater, fast vergessen.

 

Heute ist er wieder in aller Munde in Israel: Unruhige Zeiten nähren stets die Larmoyanz. So verwundert es auch nicht, dass Anita Shapira diese Biografie geschrieben hat, die die historische Persönlichkeit Ben-Gurion nicht in neuem Licht erscheinen lässt; aber das ist nicht das Ziel, und kann es bei 30 (!) Monografien, die Ben-Gurions Biografie zum Inhalt haben, auch kaum sein.

 


Ben-Gurion

Father of Modern Israel

Anita Shapira

Yale University Press, 2014

288 Seiten, 25 USD

 
Von: 
Dominik Peters

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