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Ausstellung »Kibbuz und Bauhaus«

Volksbedarf für eine utopische Gesellschaft

Feature

In der Ausstellung »Kibbuz und Bauhaus« erforscht die Stiftung Bauhaus Dessau die künstlerischen Bindeglieder, die die Bauhaus-Bewegung mit der Kibbuz-Architektur in Palästina verband.

Tel Aviv bietet Besuchern die Vorzüge einer Badestadt mit südländischem Klima, seine lebhaften Boulevards und das pulsierende Nachtleben ziehen jedes Jahr Tausende Touristen an. Aber das wahrhaft Besondere dieser Stadt ist die Architektur ihrer Gebäude.

 

Auf dem Rothschild- oder dem Bialik-Boulevard kann man diese Bauwerke bewundern, schmucklose Blöcke mit geraden Linien, die an das Klima der Gegend angepasst sind. Sie stehen auf Pfahlwerk, das Luftzirkulation ermöglicht und zugleich den Kindern Platz zum Spielen bietet. Jedes Stockwerk öffnet sich auf lange Balkons, die eng und schattig sind. Die kleinen Fenster minimieren Hitze und Licht in den Räumen, und die Flachdächer bieten einen gemeinsamen Raum, wo man sich abends, wenn die Luft kühler geworden ist, versammeln kann.

 

Wegen dieses architektonischen Erbes wird Tel Aviv auch als »weiße Stadt« bezeichnet. Beinahe 4000 Gebäude dieser Art finden sich in der Stadt. In den 1930er Jahren erbaut, sind sie eng mit der Bauhaus-Strömung verknüpft, die der modernen Architektur den Weg bereitete und als populärster architektonischer Stil des 20. Jahrhunderts gilt. Aber auch die ländlichen Kibbuz-Siedlungen waren von der Bauhaus-Architektur tief beeinflusst. Das zeigt die Ausstellung »Kibbuz und Bauhaus«, die derzeit in der Stiftung Bauhaus Dessau läuft. Die Organisatoren der Ausstellung, der israelische Architekt Yuval Lasky und Galia Bar-Gold, Direktorin des Kunstmuseums Ein Harod, wollen dabei auf die Originalität der Kibbuz-Architektur aufmerksam machen, die jahrzehntelang ignoriert worden war.

 

»Staatliches Bauhaus« war der Name der Kunstschule, die Walter Gropius 1919 in Weimar gegründet hatte. Aber im weiteren Sinn bezeichnet »Bauhaus« heute eine künstlerische Strömung des 20. Jahrhunderts, die unterschiedliche Richtungen umfasste: Architektur, Design, Tischlerarbeit und weitere Gebiete. Aber vor allem war es der Reformgeist des Bauhauses, der seinen Mythos bis heute prägt.

 

Eine neue Gesellschaft durch neue architektonische Formen

 

Das Bauhaus suchte im Deutschland der Zwischenkriegszeit die Ideale von sozialer Gerechtigkeit und Modernität zu vereinen. Auch Personen ohne großes Vermögen sollten ein Anrecht auf eine ästhetische Umwelt haben, auf Licht und Luft, auf angepasstes und funktionales Mobiliar. »Volksbedarf statt Luxusbedarf« lautete das Motto, das die Architekten antrieb; sie hatten sich selbst zum Ziel gesetzt, bezahlbaren Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten zu schaffen.

 

In Israel – genauer gesagt, dem damaligen Mandatsgebiet Palästina – wurde die Bauhaus-Architektur in den 1930er Jahren eingeführt, als deutsche Architekten vor dem Nazi-Regime flohen. In der Architekturschule Bauhaus von Dessau ausgebildet, leisteten diese Flüchtlinge und Auswanderer im Nahen Osten einen unschätzbaren Beitrag zur Bildung einer utopischen Gesellschaft.

 

Der Architekt Arieh Scharon etwa arbeitete den Bebauungsplan des nationalen Territoriums aus, noch vor der Gründung des Staates Israel 1948. In Zusammenarbeit mit Schmuel Metsechkin und Munio Weinraub trug er zwischen 1930 und 1970 zur Einrichtung zahlreicher Kibbuz-Siedlungen bei.

 

Obwohl die ersten Kibbuzim zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden waren, noch vor der Gründung des Bauhauses, legt die Ausstellung den Akzent auf die fruchtbaren Affinitäten zwischen den Kibbuz-Siedlungen und dem Bauhaus. Ausgehend von den Lebensläufen von sieben der 24 israelischen Architekten, die in der Architekturschule von Dessau ausgebildet wurden, beschreibt die Ausstellung die typische Architektur eines Kibbuz.

 

Die Architekten der Kibbuzim strebten danach, ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Individuum und Gesellschaft zu schaffen. Von den Idealen des Zionismus geprägt, sahen sie sich  in der Pflicht, zur Planung einer neuen, beispiellosen Gesellschaft beizutragen, und das hieß: auch beispiellose architektonische Formen zu schaffen.

 

Prinzip der »Vollständigkeit« der Architektur in der ökologischen Landschaft

 

Die Architekten und die aus Osteuropa stammenden Immigranten arbeiteten gemeinsam an der Schaffung einer landwirtschaftlichen und industriellen sozialistischen Gemeinschaft, die sich auf Gleichheit und Solidarität stützte. Die Ländereien und Güter waren in kollektivem Besitz, die Mitglieder eines Kibbuz sollten ihr Leben lang für Gesundheits- und Erziehungsdienste aufkommen.

 

Rückblickend könnte man fast sagen, dass die Raumplanung eines Kibbuz auf nahezu perfekte Weise das Bauhaus-Prinzip der »Vollständigkeit« der Architektur in der ökologischen Landschaft verkörperte. Der Kibbuz, einschließlich seiner Industriegebiete, war völlig »eingepflanzt« in seine Umgebung, es gab keine Zäune oder Grenzen im Raum.

 

Die Ausstellung zeigt das am Beispiel des Essenraums, der das soziale und kulturelle Zentrum der Gemeinschaft bildete und in dem auch die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen wurden. Seine Wände enthalten große Fenster, durch die man den Rasenplatz und die Wege ansehen kann. Äußeres und Inneres verschwimmen so in einer Architektur, die gleichermaßen ein Beweglichkeits- und ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelte.

 

So wie das Bauhaus strebte auch der Kibbuz danach, körperliche und geistige Arbeit zu integrieren und eine Gemeinschaft zu errichten, für die Kultur und Kunst einen untrennbaren Bestandteil darstellten. Besonderes Augenmerk wurde auf kulturelle Einrichtungen gelegt, in einem Maßstab und einer Qualität, die in den ländlichen Gebieten beachtlich waren.

 

Das Zentrum eines Kibbuz enthielt in der Regel eine Bibliothek und einen Kultursaal. Um sie herum lag das Kinderhaus, das durch eine neue pädagogische Methode charakterisiert war, die von Malka Haas entwickelt wurde. Ihre Arbeiten werden in der Ausstellung vorgestellt.

 

Zusätzlich zur Ausstellung »Kibbuz und Bauhaus« wird auch das Dokumentarfilm-Projekt »Beyond Eden« der Fotografin Stéphanie Kloss und der Politologin Antonia Blau vorgestellt sowie die Filminstallation »Traces« des israelischen Filmfachmanns Amos Gitai, die sich auf den Kibbuz-Architekten Munio Weinraub konzentriert.

 

Bauhaus-Gebäude Tel Avivs sind die Symbole einer privilegierten Elite geworden

 

Mehr als hundert Jahre sind seit der Gründung des ersten Kibbuz vergangen. 250 Kibbuzim wurden seither in ganz Israel gebaut. Aber die Siedlungen haben im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte große Veränderungen durchgemacht. Sie wurden von der Privatisierungswelle nicht verschont, die das Land seit den 1990er Jahren erfasst hat. Der Einfluss der Kibbuzim auf die israelische Kultur hat sich im Laufe der Jahrzehnte merklich verringert, wie auch der der Bauhaus-Bewegung.

 

Die Kibbuzim und die Bauhaus Bewegung vertraten egalitäre Ideale; heute scheinen diese von der Realität jedoch weit entfernt zu sein. Ungleichheit und Wohnungsnot haben im Sommer 2011 tausende Israelis auf die Straßen gebracht, um gegen die soziale Ungerechtigkeit zu demonstrieren, der sie täglich trotzen. Die Kibbuzim sowie die Bauhaus-Gebäude Tel Avivs sind die Symbole einer privilegierten Elite geworden.

 

Für einige andere bleiben die Kibbuzim jedoch ein ideales Lebensmodell: als Träger einer Solidaritätsbotschaft. Während der Transformationsprozess der Kibbuz-Siedlungen in der Ausstellung selbst nicht kommentiert wird, endet diese mit Video-Interviews von fünf gegenwärtigen Kibbuzniks. Sie sprechen über die Modernisierung der Kibbuzim und geben den Besuchern so die Möglichkeit, das Ausmaß der Veränderung zu verstehen.

Von: 
Sarah Gabriel-Pollatschek

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