Tel Aviv ist ein urbaner Solitär in Israel und setzt seit Jahren Trends – weit über die Levante hinaus. Nun ist eine furiose Anthologie junger israelischer Schriftsteller erschienen, die in ihren Texten hinter den Mythos der Metropole blicken.
Einzigartig schön, einzigartig polarisierend, einzigartig komplex – Israel zieht Superlative ebenso wie Abgrenzungsmerkmale stets magisch an, zumal Tel Aviv. Die »weiße Stadt« am Mittelmeer gilt als urbaner Bauhaus-Raum, zwischen Gegenwart und Vergangenheit oszillierend, mit orientalisch-exotischem Charme in quasi-europäischem Ambiente und keineswegs als ein »wärmeres Wien« in der Levante, wie weiland von Theodor Herzl erträumt. Kurzum: Die »Republik« Tel Aviv, wie die linksgerichtete »Jeunesse doreée« die »Bubble« stolz nennt, ist vibrierende Hipster-Hauptstadt der Levante, »happy« und »hot«, ein Solitär im Ausnahmeland.
Die renommierte Reihe »Akashic Books‘ Noir Series« hat sich seit zehn Jahren auf die Metropolen dieses Planeten speziallisiert; Moskau, Mumbai und Mexiko City, Singapur und New York, Paris London und Barcelona – sie alle, und viele mehr, haben bereits ihren Platz sicher, eine eigene Anthologie, verfasst von jungen Schriftstellern. Nun, nach langem Warten, ist Tel Aviv an der Reihe.
Verantwortlich für das Projekt zeichnen der in Deutschland bereits landauf, landab bekannte Etgar Keret (»Pizzeria Kamikaze«, »Der Busfahrer, der Gott sein wollte«, »Gaza Blues«) und Assaf Gavron, der mit seinem Roman »Auf fremden Land« hochgelobte Kritiken erhalten hat. Diese beiden Literaten haben dreizehn Gleichgesinnte um sich versammelt, darunter Gai Ad, Lavie Tiedhar und – Gadi Taub, der mit 49 Jahren der älteste Autor dieser fiktionalen Kurzgeschichtenreihe und freilich kein unbekanter Schriftsteller sowie politischer Beobachter des Zeitgeistes zwischen Mittelmeer und Jordan ist.
Jeder dieser jungen Autoren erzählt seine Geschichte von Tel Aviv, viele davon erstmals auf Englisch und damit vor einer großen Leserschaft. Das Ergebnis ist ein furioser, zuweilen surrealer Mix, der die Stadt zeigt, wie sie ist, auch und vor allem die dunklen Seiten, und nicht, wie Tel Aviv bei einem flüchtigen Club-Aufenthalt erscheint. Aufgeteilt in drei Kapitel – »Begegnung«, »Entfremdung« und »Leichen« – geht es vom Strand an die Basel-Straße zum Rabin-Platz in den Levinsky-Park, von dort zum Platz des Roten Davidsterns, hinüber nach Ajami, das arabische Viertel Jaffas, zurück zum Rothschild-Boulevard und über Tel Kabir zum Opera-Turm, anschließend in den Stadtteil Neve Schaanan, über den Masarik-Platz, den Ben-Zion-Boulevard nach Florentin und schließlich in das Dizengoff-Zentrum.
Inhaltlich ist ebenfalls alles dabei: Vom Mordfall in einem Startup-Unternehmen bis hin zu einer jungen Frau, die sich prostituiert, um die Spielschulden des eigenen Vaters tilgen zu können – ein facettenreicher Gang durch Tel Aviv, das ist diese lesenswerte Anthologie talentierter Schriftsteller. Die Mittelmeermetropole verliert durch die künstlerische Darstellung zudem den Nimbus, einzigartig in Israel zu sein.
Tel Aviv wird nicht überhöht, sondern zu einer Großstadt, wie es viele auf der Welt gibt. Der Solitär schrumpft zu realer Größe. Übrigens: Zeitgleich mit »Tel Aviv Noir« ist »Teheran Noir« erschienen. Ein Zufall? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Die nächsten Städte des Nahen Ostens sind nach Auskunft des Verlags bereits ebenfalls geplant – die beiden Herzkammern arabischer Hochkultur, Bagdad und Beirut, sowie Jerusalem sollen alsbald mit eigenen Anthologien bedacht werden. Es bleibt spannend.
Tel Aviv Noir
Etgar Keret, Assaf Gavron (Hrsg.)
Akashic Noir, 2014
285 Seiten, 11,60 Euro