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Albert Londres über China, Palästina und die arabische Halbinsel

Reisefieber und Ressentiments

Feature

Drei Reportagen der Journalisten-Legende Albert Londres sind in einem Band neu erschienen. Die Texte über China, Palästina und die arabische Halbinsel haben einen Beigeschmack: Seine Darstellung der Orientalen bedient Vorurteile.

»Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, dass weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charme einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.«

 

Der französische Journalist Albert Londres (1884-1932) liefert dem Leser zu Beginn seiner Reportage »China aus den Fugen« ein genaues Bild, wie er sich selbst sieht: Welterfahren und abgehärtet gegen Verlockungen – außer der des Reisens. Londres, in seiner Heimat Namensgeber eines Journalistenpreises, ist, was man zeitgleich in Deutschland Egon Erwin Kisch zugesprochen hat: ein rasender Reporter; einer, dem das Reisen zur Lebensform geworden ist.

 

Bereits in den 1920er Jahren werden Londres’ Reportagebücher, für die er seine Berichte überarbeitet, ins Deutsche übersetzt. Erwähnt seien das Guyana-Buch »Bagno. Die Hölle der Sträflinge« (1924), »Schwarz und Weiß. Die Wahrheit über Afrika« (1929) und »Terror auf dem Balkan« (1932). Zu nennen ist auch eine Artikelserie von 1924, die erst in den 1990ern auf Deutsch erscheint: In »Die Strafgefangenen der Landstraße. Reportagen von der Tour de France« berichtet der Journalist über Dopingfälle beim berühmtesten Radrennen der Welt.

 

Christian Döring, Verleger der »Anderen Bibliothek«, will der »längst überfälligen Wiederentdeckung dieses rasenden Starrreporters« nachhelfen und hat nun einen knapp 460-seitigen Band mit drei Reisereportagen des 1932 bei einem Schiffsunglück im Golf von Aden verstorbenen Franzosen publiziert: »Ein Reporter und nichts als das« vereinigt das bereits erwähnte »China aus den Fugen« (1922) mit »Ahasver ist angekommen« (1929/30) und »Perlenfischer« (1930/31). Während »Ahasver ist angekommen« seit 1998 wieder auf Deutsch vorliegt, handelt es sich bei den beiden anderen Reportagen um Erstübersetzungen.

 

Londres stellt die Einschätzung westlicher Chinabesucher neben die Aussagen chinesischer Politiker und Journalisten

 

»China aus den Fugen« ist das Resultat einer Reise, die Londres 1922 ins »Reich der Mitte« unternimmt. Bereits am Anfang zeichnet der Reporter ein dramatisches Bild des 1911 zur Republik ausgerufenen asiatischen Landes: »China: Chaos, Verspottung der Menschenrechte, Plünderungen, Brandschatzungen, Vergewaltigungen. Ein Grund: das Geld. Ein Ziel: das Gold. Ein Abgott: der Reichtum.« Einzelne würden die Schwäche der Zentralregierung nutzen, um sich zu bereichern: »Einundzwanzig Provinzen, einundzwanzig Tyrannen.

 

Der eine verkauft seinen Teil Chinas an Japan, der andere den Amerikanern. Alles wird versteigert: Flüsse, Eisenbahnlinien, Bergwerke, Tempel, Paläste, Schiffe.« Londres besucht Harbin, Peking, Tientsin und Shanghai, um sich einen Eindruck von den Verhältnissen in China zu verschaffen. In Harbin in der Mandschurei erlebt er Armut, Hunger und die schlechte Behandlung russischer Flüchtlinge, die vor der Revolution in ihrer Heimat geflohen sind.

 

Im Nordosten trifft er auch Zhang Zuolin, einen »Tyrannen«, der gegen Wu Peifu, einen Konkurrenten, um Land und Macht kämpft. In Peking lernt der Franzose später Amtsträger aus Politik und Polizei kennen, die keine Autorität mehr besitzen. Er hört aber auch Chinesen, die die Lage anders beurteilen: »›Der Staat ist tot, aber das Land lebt. Noch nie ging es dem Land besser als jetzt, seitdem es keinen Staat mehr gibt.‹« Diese konträren Sichtweisen stellt Londres immer wieder einander gegenüber, was dem Leser ermöglicht, sich selbst ein Bild zu machen.

 

Die Einschätzung westlicher Chinabesucher, die von Chaos sprechen, gegen die chinesischer Politiker und Journalisten: »›Weißer Kollege, du urteilst unüberlegt. Die Untertanen Zhangs zittern, sagst du. Wenn sie zittern, dann nicht deshalb, weil sie Untertanen Zhangs sind, sondern weil sie immer gezittert haben. Heute heißt der Machthaber ›Toukon‹, früher trug er den Namen Mandarin. Der Chinese hat sein liebes langes Leben damit verbracht, vor Herren zu kriechen, um ihre grausamen Phantasien nicht kennenlernen zu müssen.

 

Würde er nicht mehr zittern, dann deshalb, weil sich etwas geändert hätte, und du würdest zu Recht ausrufen: China verfällt. Das ist die Anarchie!‹« Londres gelingt es in »China aus den Fugen«, unzählige Aspekte des Alltags einzufangen: Das Schicksal russischer Flüchtlinge, das harte, entbehrungsreiche Leben der chinesischen Bevölkerung, die Brutalität der Söldnertruppen, das Leiden koreanischer Zwangsprostituierter und – und als krassen Gegensatz – das luxuriöse, kosmopolitische Leben in Shanghai.

 

Der Autor schildert das Erlebte tempo- und dialogreich, wendet sich wiederholt auch an den Leser, den er mit seiner Ironie unterhält. Seine Reportage ist szenisch, realistisch und packend. Der Ton ähnelt dem von Voltaires satirischen Roman »Candide«. Die von Londres als chaotisch empfundene Situation in China lässt sich für ihn zuweilen nicht anders erzählen in einem bitterbösen, zynischen Ton. Auch wenn dieser gelegentlich ins Wehleidige abdriftet und stört – Londres’ China-Reportage ist zu empfehlen, weil sie zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das Land bietet und den Leser auffordert, selbst die »Wahrheit« zu suchen.

 

So sehr Londres die Orthodoxen schätzt, so bewundert er mindestens genauso auch die Palästina-Auswanderer

 

Ganz anders, geradezu hymnisch und pathetisch, wirkt »Ahasver ist angekommen«. In dieser Reportage befasst sich Londres mit der Lage »assimilierter« und orthodoxer Juden um 1930 in Europa und Palästina. Auffallend ist, dass der Franzose von Anfang an große Sympathien für die jüdische Bevölkerung hegt. Londres besucht sie in Großbritannien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Polen. Er zeichnet ein Bild ihrer großen Armut auf dem Land und in einigen Ghettos der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Staaten Mittel- und Osteuropas.

 

Der französische Journalist geht den Gründen des Antisemitismus in Rumänien und Polen nach, um die Auswanderung der Juden nach Westeuropa und Palästina nachzuvollziehen. Dafür referiert Londres auch die Geschichte der Juden seit der Antike, wobei ihn besonders der Zionismus anzieht, der für ihn von Theodor Herzl (1860-1904) verkörpert wird: »Er war mehr als ein König. Er hatte mehr als ein Zepter: er hatte Flügel. Seine Mission war größer als nur ein Land zu regieren. Seine Stimme ließ Grenzen rissig werden. Sein Atem strich um die Welt. Er erweckte ein Volk, das seit neunzehn Jahrhunderten eingeschlafen war.«

 

Londres begeistert sich für die Frömmigkeit der Orthodoxen, für die Standfestigkeit ihrer Lebensweise in den nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaften Europas. Ihren großen Konflikt mit den säkularisierten Juden lässt er dabei nicht außer Acht: Es geht um die Frage, ob die Juden streng nach der Thora leben oder sich an die Sitten der Nichtjuden anpassen sollen.

 

Londres zitiert einen Rabbi, der die Assimilierten kritisiert: »›Wenn es unter euch Juden gibt, die einem Jahrhundert des Wohllebens nicht widerstehen konnten, so sind es keine Israeliten mehr, jene haben wir aufgegeben. Sie meinen Engländer, Franzosen zu sein. Der Geist hat sie verlassen. Sie haben mit dem Bund gebrochen. Sie sind alle verloren. Für uns sind sie keine Juden mehr, aber für die Menschen des Abendlandes bleiben sie gleichwohl welche!‹«

 

So sehr Londres die Orthodoxen schätzt, so bewundert er mindestens genauso auch diejenigen Juden, die nach Palästina auswandern, um dort eine »nationale Heimstätte« zu errichten. Über seine Ankunft in Tel Aviv schreibt er: »Da sind meine Juden: barhäuptig, rasiert, mit offenem Kragen, die Brust vorgestreckt und festen Schrittes. Mein Wort, sie gehen nicht mehr dicht an den Häuserwänden entlang! Sie schreiten militärisch aus mitten auf dem Gehsteig, kümmern sich nicht mehr darum, einem Polen, Russen oder Rumänen Platz zu machen.«

 

Londres hält die Araber für politisch und wirtschaftlich, vor allem aber kulturell rückständig

 

Londres ist begeistert über die Energie, mit der die Juden das »Gelobte Land« besiedeln und beackern. Zugleich macht er sich keine Illusionen. Er weiß, dass die Araber die neuen Bewohner und ihre Industrialisierung Palästinas beargwöhnen, ja sogar zu den Waffen greifen. Londres’ Begeisterung für die Aufbauarbeit im Land ist dennoch so groß, dass er darüber das Menschsein der Araber infrage stellt: »Auch wenn man anerkennen muss, dass Araber es seit Jahrhunderten und nochmals Jahrhunderten bewohnten, muss offen gesagt werden, dass sie das Werk nicht vollendet hatten. Sie waren dort, als seien sie im Dschungel der schönen Tiere der Freiheit.«

 

»Ahasver ist angekommen« ist ein zeitgeschichtlich sehr spannendes, informatives Werk. Es gibt einen lebendigen, plastischen Einblick in das osteuropäisch-jüdische Leben in Europa, das später durch die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten fast vollständig ausgelöscht wird. Zugleich thematisiert Londres den Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina, der seine Wurzeln im Ersten Weltkrieg hat und bereits in den 1920ern viele Opfer fordert.

 

Auch wenn der Journalist den Arabern in seiner Reportage ermöglicht, ihre Meinung zur Einwanderung und zum Zusammenleben mit der jüdischen Bevölkerung in Palästina zu äußern – Londres’ Darstellung der Araber reproduziert und bedient Vorurteile, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt verbreitet sind: Araber, überhaupt die Orientalen, seien politisch und wirtschaftlich, vor allem aber kulturell rückständig, ihr Glaube, der Islam, würde sie intolerant und grausam gegenüber Andersgläubigen machen.

 

Wie andere westliche Reiseschriftsteller jener Epoche wie der Deutsche Armin T. Wegner (1886-1978) sieht auch Londres in der Modernisierung und Verwestlichung des Nahen und Mittleren Ostens den Weg zu seiner Erneuerung. Für Londres ist es in diesem Fall aber nicht das Christentum, sondern der Zionismus, der Aufbau und Aufklärung in Palästina leistet.

 

»Wenn man sie so sieht, denkt man weniger an den Menschen als an das Tier«

 

»Perlenfischer«, die dritte Reportage, weist ebenfalls starke Ressentiments gegen Muslime auf. Darin berichtet Londres von seinen Erlebnissen auf der arabischen Halbinsel und in den von westlichen Mächten beherrschten Gebieten in Eritrea und Somalia. Sein Interesse gilt den Fischern im Roten Meer und Persischen Golf, die ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um die begehrten Perlen zu sammeln. Durch das ständige Tauchen in tiefen Gewässern platzt ihnen das Trommelfell. Viele werden auch blind.

 

Londres kritisiert ihre Abhängigkeit von den »Nakuda«, den Bootsbesitzern, für die sie arbeiten, um ihre Schulden für das zur Verfügung gestellte Equipment zu bezahlen. Londres’ Reportage erinnert thematisch an Henry de Monfreids Debütwerk »Die Geheimnisse des Roten Meeres«, das im gleichen Jahr erschienen ist. Auffällig bei Londres ist, dass er die Religiosität, die er bei orthodoxen Juden positiv hervorhebt, bei Muslimen negativ darstellt.

 

Über Pilger, die nach Mekka reisen, schreibt er: »Man muss das armseligste orientalische Gesindel kennengelernt haben, um sich diese Exemplare der menschlichen Spezies vorstellen zu können. Nicht einmal Frömmigkeit, die Gesichter schöner zeichnet, als sie sind, vermag hier etwas. Wenn man sie so sieht, denkt man weniger an den Menschen als an das Tier.« So gut recherchiert und geschrieben die »Perlenfischer« auch sind – Londres’ beleidigende Äußerungen über die Orientalen und Muslime, die sich immer wieder finden, hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack.

 

Daher ist der Band »Ein Reporter und nichts als das« nur begrenzt zu empfehlen, denn auch das Nachwort von Marko Martin leistet in dieser Hinsicht keine Kritik. Diese wäre aber dringend geboten, um dem Leser eine Einordnung des Autors zu geben. Die Ressentiments, die der französische »Starreporter« mitliefert und die auch sicher bei vielen heutigen Lesern auf fruchtbaren Boden treffen, sollten bei der Wiederentdeckung nicht verschwiegen werden.

 


Ein Reporter und nichts als das

Albert Londres

Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns

Die Andere Bibliothek, 2013

456 Seiten, 38 Euro

Von: 
Behrang Samsami

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