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Ägyptische Doku »The Square«

Square denken

Feature

Die Oscar-nominierte Doku »The Square« ist nicht nur ein Film und die ägyptische Verfassung nicht nur ein Gesellschaftsvertrag. Beide beweisen: Schwarz-Weiß-Denken hat in Ägypten nach wie vor Konjunktur.

Auf einer Konferenz für politische Bildung in Alexandria wedelt ein tunesisches Mädchen wie wild mit einer Kopie der ägyptischen Verfassung in der Luft herum. Vor weniger als 24 Stunden aus Tunesien angereist, hat sie die frisch erworbene Kopie des ägyptischen Verfassungsentwurfs bereits gelesen, mit Randnotizen gefüllt und sich reichlich Kritik dazu überlegt.

 

Als ich mich außerhalb der Konferenzhalle mit ihr unterhalte, ist sie nicht weniger lebhaft, zeigt aufgeregt auf einzelne Artikel der Verfassung und blättert schnell durch die Seiten des Heftchens: »Haben Sie das gelesen? Das ist keine Verfassung – es ist ein Schriftstück, das gleichzeitig alles und nichts bewilligt! Egal ob Polizei- , Gottes- oder Militärstaat – alles steht hier drin!« Die Konferenz fand Ende November 2013 statt.

 

Zeitgleich begann ein Komitee in Ägypten mit der Abstimmung über den neuen Verfassungsentwurf. Dieser sollte die Verfassung von 2012, die das Militär nach dem Sturz des Präsidenten Mursi außer Kraft gesetzt hatte, ersetzen. Ich als Ägypterin war bei der Begegnung mit dem tunesischen Mädchen ein wenig beschämt, da ich die Verfassung für mein eigenes Land zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gelesen hatte. Nachdem ich mich schon durch die Verfassung von 2012 quälen musste, war mir klar, dass dieser Text ebenso ermüdend sein würde.

 

Eine Bewährungsprobe der öffentlichen Meinung

 

Das Problem waren nicht nur die verschachtelten juristischen Feinheiten, die außerhalb meines Kenntnisbereichs lagen. Ich fing an, den Prozess eines Verfassungsreferendums als sinnlos anzusehen, und wunderte mich, ob wir wirklich so viel Energie verschwenden mussten, ein weiteres Schriftstück zu diskutieren, welches nur wenig Veränderung in unser Leben bringen würde. Schon bevor die Ergebnisse des Referendums im Januar diesen Jahres bekannt gegeben wurden, war klar, dass die Verfassung durchgehen würde.

 

Wissend, dass meine Gedanken unwillkommen waren, schloss ich mich den Reihen der stillen Minderheit an und boykottierte. Diese stille Minderheit bestand jedoch diesmal aus einer beträchtlichen Anzahl an Jugendlichen. Wie schon beim Referendum 2012 hatte eine Abstimmung für oder gegen den Verfassungsentwurf nur wenig mit Selbstbestimmung oder den Rechten jedes Einzelnen zu tun. Wie jeder andere administrativ-demokratische Prozess in Ägypten der vergangenen drei Jahre war es eine Bewährungsprobe der öffentlichen Meinung, und das niederschmetternde Ergebnis von 98 Prozent Befürwortern die sorgfältig geplante Antwort.

 

Verbot des Oskar-nominierten Films »The Square« in Ägypten

 

Es ergab sich zufällig, dass während derselben Woche im Januar, als das Verfassungsreferendum in Ägypten durchgeführt wurde, der US-amerikanische Streamingdienst Netflix den Dokumentarfilm »The Square« von Jehane Noujaim veröffentlichte. Ägyptische Zeitungen priesen »The Square« als den ersten Oscar-nominierten ägyptischen Film, während Ägyptens erdrückende Bürokratie eine offizielle Filmvorführung in Ägypten verhinderte. Im Ausland gut aufgenommen, wurde der Film von der Hintergrundgeschichte des Verbots in Ägypten überschattet.

 

»The Square« ist jedoch nicht der erste Film über die Ägyptische Revolution, der in Ägypten verboten wurde. Der im »Paris Je t’aime-Stil« gehaltene Episodenfilm »18 Youm« (»18 Tage«), der 2011 für das Filmfestival von Cannes nominiert war, wurde nie in Ägypten gezeigt. Ähnlich hatte Yousry Nasrallahs Film »Ba’d El Moqe’a« (»Nach der Schlacht«) – basierend auf dem als Kamelschlacht bekannt gewordenen Vorfall vom Tahrir-Platz – eine begrenzte Laufzeit in den ägyptischen Kinos.

 

Doch als »The Square« lokal und international Schlagzeilen schrieb und Raubkopien in sozialen Netzwerken kursierten, wurde der Film schnell zum Diskussionsthema in Ägypten. Manche bestanden darauf, dass der Film für die Muslimbruderschaft Partei ergreife und gegen die Armee gerichtet sei. Andere sagten, er sei nicht »repräsentativ«. Wiederum andere meinten, »The Square« sei schlichtweg ein ergreifendes Porträt der Revolution und verbrachten die gesamten 108 Minuten des Films in Tränen.

 

Zweifellos stellt der Film eine beeindruckende und emotionale Geschichte über den Gewinn an Mitwirkungsmöglichkeit und Wandel dar. Er zeichnet ein heroisches Bild von Widerstand und Tatendrang und erfasst den Geist der Revolution auf dem Tahrir-Platz.

 

Die Möglichkeit politisch Position zu beziehen

 

Bei denjenigen, die während der Filmvorführung weinten, rief er Erinnerungen an eine – im Rückblick fast surreal wirkende – kollektive Dynamik wach. Für andere war der Film eine Möglichkeit, eine politische Position zu beziehen, ihre Meinung auszudrücken oder ein Feindbild zu kreieren. Viele konnten sich auch durch den Film nicht von ihrer – häufig durch staatliche Propaganda genährten – Meinung über die Revolution trennen.

 

Tatsächlich bemängelten nur wenige lokale und internationale Kritiker den Film in Hinblick auf seinen künstlerischen oder filmischen Wert; polarisiert und politisiert – die Bewertungen des Films drehten sich darum, wie der Film unterschiedliche politische Fraktionen darstellt, in welchem Umfang er reflektiert und was davon »wirklich« passiert ist. Die Polarisation beider Reaktionen, zum einen auf das Referendum und zum anderen auf The Square sind vielsagend.

 

Auch ohne die Propagandamaschinerie, hätte es einerseits diejenigen gegeben, die im Namen von Stabilität und Sicherheit für das Referendum gestimmt und The Square als parteiisch verurteilt hätten. Der Stichkampf zwischen den Interessen, Meinungen und Sympathien bedeutet, dass weder der Film noch die Volksabstimmung für sich selbst stehen können. Ein Film wie »The Square« ist nicht nur ein Film, sondern auch eine politische Position, so wie die ägyptische Verfassung nicht nur ein Gesellschaftsvertrag, sondern auch ein Prozess der Kategorisierung und Ausgrenzung ist.

 

Es wird problematisch, wenn 60 Prozent der Bevölkerung wahllos mit der Bezeichnung »Jugend« in einen Topf geworfen werden. Nicht nur problematisch, sondern beunruhigend wird es, wenn die Muslimbrüder und ihre »Sympathisanten« als Terroristen angesehen werden. Fast surreale Ausmaße nimmt es an, wenn nur noch die Menschen auf die Straße und zu den Wahlurnen gehen, die zur sogenannten Sofa-Partei gezählt werden können – eben jene Ägypter, die die Revolution lange nur vom Fernseher aus verfolgt haben und teilweise politisch-apathische Anhänger des alten Regimes sind.

 

Der Tag, an dem wir auch an die Wahlverlierer denken

 

Aber die eigentliche Frage lautet, ob diese Narrative nebeneinander bestehen können, sei es nun auf dem Bildschirm oder im wirklichen Leben, als Fiktion, Fantasie oder Drama. Eines Tages sollten wir die Ruhe haben, um einen Film für das, was er ist zu sehen und nicht, für das, was er repräsentiert. Vielleicht können wir uns dann eine sinnvollere Meinung über »The Square« bilden.

 

Falls dieser Tag kommt, werden wir vielleicht aufhören die »Demokratie« als reinen Verwaltungsapparat zu betrachten, der unsere Positionen mit fertigen Zielvorgaben und Prozentsätzen zu stärken hat. Vielleicht wäre ich dann nicht nur etwas beschämt, wenn ich von einer begeisterten Fremden mit den Auswirkungen der Verfassung meines Landes konfrontiert würde. Vielleicht werden wir dann nicht mehr darüber nachdenken, wer die Wahlen gewinnt, sondern darüber, was mit denen passiert, die sie nicht gewinnen.

 

Aber solange unsere jeweiligen Versionen der Ereignisse nur in Schwarz und Weiß eingeteilt werden, erscheint dieser Tag so weit weg, wie die fast unwirkliche, aber immer noch leuchtende Erinnerung an die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz.

Von: 
Yasmine Nazmy

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