Lesezeit: 7 Minuten
»Décor« von Ahmad Abdallah

Was real ist, bestimmt jeder selbst

Feature

»Décor« ist ein Tribut an die erzählerische Kraft des Kinos, an große Geschichten von Freiheit, Liebe und Zwang. Nicht der einzige Grund, warum der neue Film von Ahmad Abdallah eine passende Eröffnung des 6. Arabischen Filmfestivals ist.

Ahmad Abdallah ist einer der spannendsten jüngeren Filmemacher in Ägypten, weil sich die Zuschauer kaum sicher sein können, was er ihnen vorsetzt: Nach seinen erfolgreichen Underground-Dokumentationen »Heliopolis« (2009) und »Microphone« (2010) schwenkte er mit »Rags and Tatters« (2013) radikal um und drehte einen ruhigen, fast experimentellen Film von den Rändern der ägyptischen Revolution. Mit »Déco«r (2014) ist aus dem Independent-Regisseur Abdallah ein Mann des großen Budgets geworden, statt sieben oder acht Mitarbeitern hatte er ein knapp hundertköpfiges Team, man sieht dem Film die finanziellen Möglichkeiten an. Also ein radikaler Bruch? Nein. »Décor« ist der (gelungene) Versuch einer Reflektion über die Freiheit der Entscheidung.

 

Was macht man als Regisseur, wenn man alle Freiheiten hat? Was machen die Filmfiguren, wenn sie diese Freiheiten nicht haben? Wenn äußere Zwänge Entscheidungen verlangen, die die Größe eines einzelnen Lebens übersteigen? Maha (Horeya Farghaly), die Protagonistin, ist eine erfolgreiche Set-Designerin beim Film. Sie ist eine gewollt kinderlose Karrierefrau, die gemeinsam mit ihrem gut aussehenden Partner Sherif (Khaled Abol Naga) die Kulissen einer lieblosen B-Produktion gestaltet. Maha ist Perfektionistin, aber der große Zeitdruck im kommerziellen Filmgeschäft lässt keine Freude an der Arbeit zu, sondern nur Stress. Plötzlich gibt es einen eleganten, flotten Schwenk, und Maha findet sich im Film selbst wieder, in einer Illusion, in der sie die Ehefrau eines liebevollen Langeweilers (Maged El Kedwany) und Mutter einer renitenten Tochter ist.

 

Regisseur Abdallah setzt diesen Schwenk sehr geschickt ein und zeichnet beide Welten in einem weichen, mitunter fast träumerischen Schwarzweiß. Bald ist man sich gar nicht mehr so sicher, welche Welt die Realität und welche die Illusion ist: Hier die erfolgreiche, aber gestresste Karrierefrau, dort die geliebte, aber auch unglückliche Mutter. Die Themen der beiden Welten verschränken sich, angeleitet durch die einzige Konstante, einen listigen Psychologen: Sind die Drei wirklich glücklich mit den Entscheidungen der Vergangenheit? Die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft, der Einfluss der Außenwelt (es herrscht eine Ausgangssperre), die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – Ahmad Abdallah lässt seine Figuren die großen Themen umkreisen, ohne sich selbst zu einer Entscheidung gezwungen zu sehen.

 

Das funktioniert sehr gut, auch wenn nicht jeder Schwenk in den 116 Filmminuten die Geschichte wirklich voranbringt und die Geduld des Publikums ein wenig zu sehr beansprucht. Trotzdem hat Abdallah mit »Décor« einen großartig inszenierten Autorenfilm gedreht, der sich vor den Frauenfiguren des arabischen Kinos verbeugt: Im Hintergrund laufen immer wieder Ausschnitte aus den Filmen von Faten Hamama, der im Januar 2015 verstorbenen großen ägyptischen Schauspielerin. Die »Décor«-Protagonistin Maha ist vernarrt in Hamamas Filme – eine Metapher für ihren Wunsch, auch so frei und stark sein zu wollen.

 

Auf der Bühne des Berliner Alfilm-Festivals muss Khaled Abol Naga schmunzeln, er hat Frage nach den filmischen Metaphern erwartet. »Ehrlich gesagt, spielen wir mit diesem Film nur mit dem Publikum«, sagt der 48-jährige Filmstar. »Wenn Sie eine Metapher darin sehen, dann ist das so. Jeder Zuschauer hat seine eigene Vorstellung.« Auch in diesem Sinne ist »Décor« ein gut gewählter Auftaktfilm, denn er öffnet das Festival für mehrere thematische Leitlinien. Frauen nehmen einen großen Platz ein, auch in der diesjährigen Retrospektive, die die Ägypterin Yousra in den Mittelpunkt stellt, eine der bekanntesten arabischen Schauspielerinnen der Gegenwart.

 

Ein weiterer Fokus des Festivals liegt auf der »Auseinandersetzung mit tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen«, wie es das Programmheft beschreibt. »Silvered Water« und »Haunted «widmen sich dem syrischen Bürgerkrieg, »Nun wa Zaytun« erzählt von einem mobilen Kino im ländlichen Palästina. Das 6. Alfilm-Festival bietet einen interessanten Querschnitt von Filmproduktionen aus der Region – wohlwissend, dass die Entwicklung und die aktuelle Situation in den einzelnen Ländern so unterschiedlich sind. Insofern ist es passend, mit »Décor« zu beginnen, einem Film, der einmal nicht den Fokus auf die Politik legt. Schließlich ist nicht alles nur Terror und Krieg.


Das 6. Arabische Filmfestival läuft vom 8. bis 15. April 2015 in der Berliner Kinos Babylon und Arsenal. www.alfilm.de

Von: 
Christopher Resch

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