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IT-Industrie in Israel und der Gaza-Krieg

Wie Israels Start-up-Szene den Krieg erlebt

Feature
IT-Industrie in Israel und der Gaza-Krieg
Shai Pal / Unsplash

Mehr als zwei Drittel der Unternehmen erleben aufgrund der Mobilisierung personelle Engpässe – der Konflikt mit der Hamas setzt auch Israels Tech-Szene zu. Einige sehen aber auch eine größere Rolle für ihre Branche – auch in der Politik.

Im Medien-Consultancy-Start-up Tarzo fehlen derzeit sechs Arbeitskräfte von insgesamt 40, darunter zwei Manager und ein erfahrener Programmierer. Die personelle Lücke bremse das Entwicklungstempo und führe zu Engpässen, erzählte der Gründer Itai Barel gegenüber zenith. Darüber hinaus belaste besonders der emotionale Aspekt die Mitarbeiter. So gebe es in der Firma niemanden, der nicht einen engen Freund oder Familienangehörigen verloren habe.

 

»Die Gefühlslage war für alle sehr belastend, und die Mitarbeiter hatten keine Motivation zu arbeiten. Selbstverständlich haben wir während den ersten beiden Wochen nicht erwartet, dass sie ins Büro kommen«, berichtet der Gründer.

 

Auch Gili Raanan von Cyberstarts, einem Venture Capital Fund für Cybersecurity-Firmen, schildert die Stimmung der letzten vier Wochen »von Schock über Trauer« bis hin zu »wir müssen weitermachen«. Seine Start-ups hätten sich an die Situation angepasst. Man arbeite nun in kleineren Teams und sei zu einem Covid-ähnlichen Arbeiten im Home-Office übergegangen, berichtet der Investor.

 

Einige Technologiefirmen arbeiten tatsächlich sogar noch intensiver als gewöhnlich. »Sie können sich vorstellen, dass Cybersicherheits- und verteidigungsbezogene Technologiefirmen Schlüsselelemente des aktuellen Konflikts sind«, ergänzt Ido Baum, Direktor des Brandeis-Instituts für Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie.

 

Bis zu 20 Prozent der IT-Angestellten sind zum Reservistendienst eingezogen worden

 

Israels Krieg gegen die Hamas stellt das Land, das mehr Start-up-Unternehmen pro Kopf als das Silicon Valley aufweist, auf eine harte Probe. Laut einer Umfrage der Israel Innovation Authority und des Start-Up Nation Policy Institute (SNPI) müssen aufgrund der aktuellen Situation mehr als 70 Prozent der Start-ups Aufträge und Projekte verschieben oder stornieren, während andere mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen haben. »Durch die Verlangsamung der Kapitalbeschaffung und die Einberufung von Mitarbeitern zum Reservistendienst aufgrund des Krieges stehen viele High-Tech-Unternehmen vor echten Herausforderungen«, erklärt Dror Bin, CEO der Israel Innovation Authority. Demnach befinden sich derzeit etwa 15 bis 20 Prozent der Arbeitskräfte im High-Tech-Sektor in der Reserve der Streitkräfte.

 

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurden über 1.400 Israelis getötet, Tausende verletzt und über 200 nach Gaza entführt. Daraufhin erklärte Israel der Hamas den Krieg und greift seitdem den Gazastreifen aus der Luft und auf dem Boden an, mit bisher mehr als 10.000 zivilen Todesopfern.

 

Experten sprechen von der größten militärischen Mobilisierung in der Geschichte des Landes. Insgesamt seien mehr als 300.000 Reservisten einberufen worden, berichtet Eran Lerman, Vizepräsident des Jerusalem Institute for Strategic Studies. »Und wahrscheinlich haben sich noch mehr freiwillig gemeldet – möglicherweise 20 Prozent mehr als offiziell registriert.«

 

High-Tech als treibende Kraft der Wirtschaft

 

Seit Beginn der Gründung im Jahr 1948 befand sich Israel mehrfach im Krieg und im Überlebensmodus. Aus diesem Grund wurden die eigenen Verteidigungsfähigkeiten ausgebaut und die militärischen Innovationen des Landes entwickelten sich somit historisch gesehen unter anderem aus geopolitischen Bedürfnissen.

 

Zusätzlich besteht in Israel sowohl für Männer als auch Frauen mehrere Jahre Wehrpflicht. Viele talentierte Tech-Ingenieure starteten daher ihre Karriere im Militär. Beispielsweise entwickelte Dov Moran in den 1990er-Jahren Verschlüsslungstechnologien bei der Marine. Ein paar Jahre später, mittlerweile in der Privatwirtschaft angekommen, erfand er mit seiner Firma M-Systems den USB-Stick.

 

Längst genießt Israel den Ruf als Start-up-Nation, einer der führenden Treiber der vierten industriellen Revolution. Angaben zufolge erwirtschaftete der Hochtechnologiebereich im Jahr 2022 rund 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Israels und war somit der größte Sektor. Gleichzeitig machte High-Tech etwa 48 Prozent des israelischen Exports aus.

 

Die liberale Tech-Bubble und die Politik

 

Anfang des Jahres hatten Tausende Israelis gegen die rechts-religiöse Regierung von Benjamin Netanyahu und deren Umbau des Rechtssystems protestiert. Die Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem, die sich über Monate streckten, fanden großen Anklang bei der liberalen Tech-Szene. Hat sich die Meinung aufgrund des Konflikts geändert?

 

»Das Erstaunliche ist, dass unabhängig von politischen Ansichten selbst diejenigen in Israel, die die Justizreform abgelehnt haben – einschließlich vieler führender Persönlichkeiten der Technologiebranche – sich zusammengeschlossen haben, um den Familien der Opfer und Entführten zu helfen und die Soldaten im Gazastreifen zu unterstützen«, erklärt Jurist Ido Baum.

 

Trotz verschiedener politischen Ansichten erlebe Israel aktuell eine einzigartige Situation intensiver innerer Solidarität angesichts der Bedrohung durch die Hamas, so Baum. »Es gibt eine klare Trennlinie zwischen dem Bösen der Hamas und der Notwendigkeit, sie zu zerstören, und der politischen Sichtweise«, meint Raanan. Dennoch herrsche das Gefühl, »dass die Regierung in ihrer wichtigsten Verpflichtung versagt hat, uns zu schützen«, glaubt der Investor. »Deshalb sollte sie abtreten.«

 

Nicht erst die derzeitige Kriegslage sorgt für die Engpässe in der Start-up-Szene. Bereits im vergangenen Jahr hätten viele Tech-Firmen Probleme in Finanzierungsrunden gehabt, berichtet Baum. Der Grund: die politische Instabilität infolge des Streits um die Justizreform. »Der Tech-Sektor als größter Wirtschaftsfaktor wird nach dem Krieg deutlich Einfluss auf die Umstrukturierung der Politik nehmen«, glaubt Baum. Raanan stimmt dem zu: »Für unsere Branche eröffnet sich die Gelegenheit, sich stärker in die Politik einzubringen.«

Von: 
Luise Evers

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