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Verfassungskrise und neue Regierung in Tunesien

Saieds Spiel gegen die Zeit

Analyse
Verfassungskrise und neue Regierung in Tunesien
U.S. Secretary of Defense

Tunesien hat wieder eine Regierung – aber Kais Saied behält sich umfangreiche Sonderrechte vor. Viele Tunesier fragen sich: Wie sieht der Reformplan des Präsidenten eigentlich genau aus?

Die einen sprechen von Autokratie, die anderen von Aufbruch. Tunesien befindet sich seit fast drei Monaten im Ausnahmezustand und inmitten der schlimmsten politischen Krise seit dem Sturz Ben Alis vor über zehn Jahren.

 

Am 25. Juli hatte Staatspräsident Kais Saied als Reaktion auf massive Proteste gegen die tunesische Regierung und deren andauernde Handlungsunfähigkeit Regierungschef Hichem Mechichi abgesetzt, die Parlamentsarbeit ausgesetzt und die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben. Daraufhin hat der parteilose Jurist und Verfechter basisdemokratischer Ansätze im Alleingang die Regierungsgeschäfte übernommen – und wurde dafür von der Mehrheit der Tunesier gefeiert.

 

Es mag für Außenstehende überraschend bis befremdlich erscheinen, dass zehn Jahre nach der Jasmin-Revolution und einem in vielerlei Hinsicht erfolgreichen Übergang von einer Diktatur in eine Demokratie, eine deutliche Mehrheit der Tunesier die Aussetzung grundlegender demokratischer Verfahrensweisen durch den Präsidenten bejubelt oder zumindest toleriert.

 

Saieds Popularitätswerte von bis zu 90 Prozent sind in den vergangenen Wochen deutlich eingebrochen

 

Doch bevor reflexartige Schlussfolgerungen über den tunesischen Demokratisierungsprozess gezogen werden, sollten bei aller berechtigten Kritik am Vorgehen Kais Saieds die Motive und Beweggründe seiner Fürsprecher nicht außer Acht gelassen werden. Die Popularität des Präsidenten ist nicht als Absage der Tunesier an die Demokratie als solche zu interpretieren. Sie fußt vielmehr auf einer tiefsitzenden, gesellschaftsübergreifenden Frustration über eine elitäre, realitätsferne politische Klasse, die den Bezug zu den Alltagssorgen der Menschen verloren hat.

 

Die Suspendierung des Parlamentsarbeit und die temporäre Kompetenzerweiterung des Präsidenten wird in Tunesien auch rückblickend als zwingend notwendiger Schritt und Ausweg aus einer Sackgasse der politischen Handlungsunfähigkeit und zunehmenden Einflussnahme durch die muslimisch-konservative Partei Ennahdha gesehen, welche als vergleichbar stärkste und stabilste Kraft quasi durchgehend an den verschiedenen Regierungen seit 2011 beteiligt war. Zu unerträglich waren die satirehaften Zustände im Parlament, zu groß das wirtschaftliche Elend und der Wunsch, dass irgendjemand endlich etwas unternimmt.

 

Präsident Saied und sein Kurs genießen nach wie vor hohen Zuspruch – bei den jungen Tunesiern liegt dieser Wert Umfragen zufolge bei 70 bis 80 Prozent. Dennoch sind die Popularitätswerte von bis zu 90 Prozent Mitte August in den vergangenen Wochen deutlich eingebrochen und ein weiterer Rückgang zeichnet sich bereits ab.

 

Selbst ehemalige Befürworter sprechen mittlerweile offen von einem Verfassungsbruch

 

Spätestens seit Erlass des Präsidialdekrets vom 22. September, das eine quasi alleinige Entscheidungskompetenz des Präsidenten vorsieht, ist offensichtlich, dass Kais Saied sich über die aufwändig erarbeitete tunesische Verfassung hinwegsetzte, die als eine der modernsten in der arabischen Welt gilt. Selbst ehemalige Befürworter sprechen mittlerweile offen von einem Verfassungsbruch und einem Staatsstreich.

 

Hintergrund für den Einbruch der Umfragewerte ist aber vielmehr, dass der Präsident noch immer keinen konkreten Übergangsplan präsentieren konnte, der alle von ihm zum Kern seiner Agenda erklärten Elemente verbindet: die Eindämmung von Korruption und damit verbunden die Ablösung etablierter Parteien zugunsten von mehr zivilgesellschaftlicher und lokaler Partizipation am politischen Prozess, die Eindämmung der sozioökonomischen Krise, sowie die Reform der Verfassung und des Wahlrechts unter gleichzeitiger Wahrung der demokratischen Errungenschaften Tunesiens.

 

Während es einen starken Konsens darüber zu geben scheint, was die Mehrheit der Tunesier zukünftig nicht mehr möchte – nämlich eine paralysierte parlamentarische Demokratie in ihrer bisherigen Erscheinungs- und Wirkungsform, herrscht Ungewissheit in Bezug auf die politische Zukunft des Landes und große Intransparenz bezüglich einer konkreten Agenda des Präsidenten und seiner Strategie aus der politischen Krise.

 

Die Ernennung von Najla Bouden als neue Regierungschefin kam für die Unterstützer des Präsidenten, seine politischen Gegner, wie auch für viele Vertreter der tunesischen Zivilgesellschaft gleichermaßen überraschend. Auch wenn sie weitgehend unbekannt ist, wurde ihre Ernennung mehrheitlich positiv aufgenommen und hat vor allem symbolische Schlagkraft entfaltet, schließlich ist es das erste Mal in der Geschichte Tunesiens, dass eine Frau das Amt einer Regierungschefin innehat.

 

Der politische Einfluss der neuen Ministerpräsidentin wird gering bleiben

 

Die aus Kairouan stammende Geologie-Professorin war zuletzt im Hochschulministerium tätig. Doch bei aller Hoffnung, die in die frisch nominierte Ministerpräsidentin gesetzt wird, ist davon auszugehen, dass ihr politischer Einfluss künftig gering bleiben und sich maximal im Schatten des Staatspräsidenten bewegen wird. Zwei Wochen nach ihrem Amtsantritt hat Najla Bouden nun eine neue Regierung bestehend aus einer Staatssekretärin, 8 Ministerinnen und 16 Ministern ernannt.

 

Lediglich die Finanzministerin sowie der Außen- und Bildungsminister bleiben im Amt. Ansonsten setzt sich das neue Kabinett hauptsächlich aus eher unbekannten Akademikern und Technokraten zusammen, die keiner politischen Partei zugeordnet werden können. Der Kampf gegen die Korruption und die Wiederherstellung des Vertrauens in den Staat stehen laut Ansprache der Regierungschefin an oberster Stelle. Klar ist: Najla Bouden und ihr Kabinett stehen unter enormen Druck und vor gewaltigen Herausforderungen.

 

Oberste Priorität hat die Eindämmung der sich zuspitzenden sozioökonomischen Krise, welche inzwischen die breite Mittelschicht erfasst hat. Denn die euphorische Aufbruchsstimmung wird schnell verblassen, wenn sich der Alltag der Menschen nicht in absehbarer Zeit spürbar verbessert.

 

Aufgrund des schwachen Wirtschaftswachstums und der mangelnden Fähigkeit des tunesischen Staates, Arbeitsplätze zu schaffen und Investitionen zu tätigen, haben sich die Lebensverhältnisse und die Kaufkraft der Bevölkerung stetig verschlechtert. In einem Land, in dem ein Großteil im informellen Sektor beschäftigt ist und der Privatsektor größtenteils aus klein- und mittelständischen Unternehmen besteht, hat sich die Situation im Pandemiejahr 2020 weiter verschärft.

 

Tunesien muss die Verhandlungen über den ausstehenden IWF-Kredit  wiederaufnehmen

 

Während Tunesien die Gesundheitskrise mit Hilfe aus dem Ausland inzwischen einigermaßen gut in den Griff bekommen hat, stellt die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise das Land weiter vor große Herausforderungen. Die Perspektivlosigkeit, insbesondere der jungen Menschen, befindet sich nicht nur in den strukturschwachen Regionen auf einem Höhepunkt. Immer mehr Tunesier verlassen das Land, um in Europa eine bessere Zukunft zu suchen.

 

Um langfristig eine Diversifizierung und Modernisierung der Wirtschaft zu erreichen und um das Potenzial der vergleichbar gut ausgebildeten tunesischen Fachkräfte – Ingenieure, Softwareentwickler, Ärzte – zu nutzen, müssen bürokratische Hürden für die Privatwirtschaft abgebaut und mittel- bis langfristig angelegte Reformen auf den Weg gebracht werden.

 

Dies wird nur mit Unterstützung aus dem Ausland umsetzbar sein. Tunesien muss die seit Ende Juli auf Eis liegenden Gespräche und Verhandlungen über den ausstehenden IWF-Kredit daher mit einer klaren Strategie, festen Ansprechpartnern und ohne weiteren Zeitverlust erneut aufnehmen. Denn ohne tiefgreifende, bisweilen unpopuläre wirtschafts- und finanzpolitische Reformen sind die strukturellen Probleme Tunesiens nicht in den Griff zu bekommen.

 

Dieser Kraftakt wird aber nicht im Alleingang, sondern nur im Dialog und unter Einbindung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Akteure sowie internationaler Partner gelingen. Die Pro- und Anti-Kais-Saied-Demonstrationen der letzten Wochen mit mehreren tausenden Teilnehmern sind bisher überschaubar und friedlich verlaufen. Wenn aber nicht bald durchdachte und wirkungsvolle Reformen verabschiedet werden, könnten sich die Fronten verhärten, soziale Konflikte entflammen und die Lage instabiler werden. Momentan gilt: Die Situation bleibt kritisch, ist aber nicht ausweglos.


Caroline Schmidt ist Research Asscoaite beim Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Tunis.

Von: 
Caroline Schmidt

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