Lesezeit: 8 Minuten
Türkische Intervention im Kampf um die libysche Hauptstadt Tripolis

High Noon am Mittelmeer

Analyse
Kämpfer an der Front in Tripolis
Kämpfer an der Front in Tripolis Foto: Mirco Keilberth

Der Kampf um die libysche Hauptstadt Tripolis geht in die entscheidende Phase. Präsident Serraj steht mit dem Rücken zur Wand und so wird es wohl die Türkei sein, die Europas Ansprechpartner vor den anrückenden Milizen rettet.

Bei dem Luftangriff auf eine Militärakademie im Zentrum von Tripolis sind am Samstagabend mindestens 30 Rekruten der Streitkräfte von Libyens Einheitsregierung ums Leben gekommen. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen wie die Rekruten auf dem Exerzierplatz der Hadba-Kaserne zum Abendappell antreten, als eine vermeintliche Rakete zwischen ihnen einschlägt. Über 20 weitere junge Männer liegen mit Verletzungen im Krankenhaus bestätigt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Noch in der Nacht bildeten sich vor mehreren Krankenhäusern lange Schlangen freiwilliger Blutspender, denn in der libyschen Hauptstadt herrscht ein Mangel an Medikamenten, Blutreserven und Verbandsmaterial.

 

Auf einer Pressekonferenz nannte Ahmed Al Mismari, Sprecher der Libysch-Arabischen Armee (LNA) die Akademie und den Flughafen von Tripolis legitime Ziele, da sie »von terroristischen Gruppen und für Waffenlieferungen aus der Türkei genutzt werden.« Dennoch gab Mismari einer Allianz aus Al-Qaida, dem so genannten Islamischen Staat und den Muslimbrüdern die Schuld an der Attacke. Mitarbeiter der Militärakademie berichten, dass Trümmerteile eher auf Beschuss durch eine chinesische Wing Loong Drohne deuten, doch unabhängige Ermittler waren nicht vor Ort.

 

Nach dem Einschlag mehrerer Granaten im zivilen Bereich des Tripolitaner Mitiga-Flughafens wurde der Flugverkehr nach der kürzlichen Wiedereröffnung erneut eingestellt. Khalifa Haftar hatte zuvor zu einem Jihad gegen die geplante »türkische Invasion« aufgerufen und gewarnt dass die Häfen und Flughäfen Westlibyens für die türkische Truppenverlegung genutzt würden.

 

Haftars »Libysch Arabische Armee« (LNA) kontrolliert mit der Hilfe Ägyptens, Russlands, den Arabischen Emiraten und Saudi-Arabiens die östliche Cyreneika Provinz und damit die Mehrheit der Ölquellen Libyens. Tripolis und die vom Muammar Al-Gaddafi in die Hauptstadt verlegten staatlichen Institutionen sind hingegen in der Hand von Premier Fayez Serraj, unabhängigen Milizen und westlibyschen Armeeeinheiten. In der Akademie im Stadtteil Hadba werden jungen Männer aus ganz Libyen für den westlibyschen Teil der Armee ausgebildet und der Einheitsregierung unterstellt Haftar will nach seinem Sieg gegen die islamistischen Milizen in Bengasi nun auch Tripolis von den Milizen befreien. Doch in der Akademie sind die nicht stationiert.

 

Nach monatelangem Patt gelang es der LNA im Dezember an mehreren Stellen der 80 Kilometer langen Front bis auf acht Kilometer auf das Stadtzentrum vorzurücken. Der auf der Friedenskonferenz von Shkirat berufene Serraj hatte daraufhin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Beistandspakt geschlossen, in dem der Türkei auch Rechte an Gasvorkommen nahe der libyschen Küste zugestanden werden.

 

Die Libyen-Mission der Türkei hat die Diplomatie überrascht

 

Am Montag nun verkündete Erdoğan den Start der offiziellen Libyen Mission. Türkische Medien berichten, dass in Misrata und Tripolis Kommandozentralen aufgebaut werden sollen, zwei in Algerien liegenden Fregatten liefen in Richtung Golf von Sirte aus. In den letzten zwei Wochen waren bereits syrische Freiwillige in Zivilmaschinen der Fluggesellschaften Libyan Wings und Buraq Air eingetroffen. Laut eines Berichts des UN Expertenrates für Libyen werden türkische Waffen seit Jahren in Containerschiffen über westlibysche Häfen geliefert.

 

Die Stationierung von syrischen Freiwilligen ist in auch bei den Verteidigern von Tripolis nicht unumstritten. Die türkische Armee kooperiert in Westsyrien mit Gruppen der ehemaligen »Freien Syrischen Armee« (FSA), in Rekrutierungsbüros werden laut der syrischen Beobachterstelle für Menschenrechte bereits Freiwillige für den Kampf gegen Haftars Armee in Libyen geworben. Syrische Oppositionsquellen haben über abgehörte Funksprüche die Faylaq al-Sham Miliz als eine der in Libyen eingetroffenen syrischen Gruppen identifiziert.

 

Nach Angaben von Insidern der islamistischen Szene flog ein Vorauskommando an Bord einer Boing 737 von Buraq Air am 27. Dezember morgens um 4 Uhr von Istanbul nach Tripolis. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte befinden sich bereits 300 ehemalige FSA Kämpfer an der Front in Ain Zara, 1.000 weitere sollen angeblich folgen. Der Militäranalyst Babak Taghvaee glaubt, fünf solche Söldnerflüge identifiziert zu haben, bis zu 800 Söldner könnten so in Misrata und Tripolis angekommen sein. Die Einheitsregierung von Serraj bestreitet vehement, dass syrische Ex-FSA-Kämpfer in Libyen eingetroffen sind. Doch dpa-Korrespondent Simon Kremer hat herausgefunden, dass ein Video von Kämpfern mit Aleppo-Akzent im Süden von Tripolis aufgenommen worden ist.

 

Bis vor kurzem funktionierte die libysch-türkische Luftbrücke in die andere Richtung. Die 2013 gegründete Fluglinie Libyan Wings wird angeblich von Abdulhakim Belhadj geleitet, einem ehemaligen Guantanamo-Insassen, der als angeblicher Al-Qaida-Kommandeur von westlichen Geheimdiensten lange Zeit verfolgt und schließlich an Gaddafi ausgeliefert worden war. Nach der Eroberung von Tripolis durch die Revolutionäre wurde Belhadj Ende 2011 Militärkommandeur von Tripolis und galt seitdem als Schlüsselfigur für die Vermittlung von libyschen Kämpfern und Waffen nach Syrien.

 

Kämpfer an der Front in Wadi Rabia, im Süden von Tripolis
Kämpfer an der Front in Wadi Rabia, im Süden von TripolisFoto: Mirco Keilberth

 

»Libyen droht durch die offene Parteinahme ausländischer Regierungen für einzelne Kriegsparteien die Spaltung«, fürchtet der politische Analyst Younis Issa. UN-Generalsekretär Antonio Guterres forderte bereits vergangene Freitag alle internationalen Akteure dazu auf, das vom Weltsicherheitsrat während des Aufstands gegen Gaddafi verhängte Waffenembargo einzuhalten. Doch je mehr Länder sich militärisch in Libyen engagieren, desto geringer wird der Einfluss der UN-Mission.

 

Wie so oft in den vergangenen Jahren verlief die Eskalation des Konfliktes in den Tagen zuvor für die Weltöffentlichkeit fast unbemerkt. Nach der Sitzung des türkischen Parlamentes über die Entsendung der Armee nach Libyen wurde in der östlichen Cyreneika-Provinz ohne großes Aufsehen die Generalmobilmachung ausgerufen. Gleichzeitig kursierte in den sozialen Medien ein Video, das die Ankunft von 100 Toyota Pickups im Hafen von Bengasi zeigt. Ein weiteres Video zeigt eine mehrere Kilometer langen Militärkonvoi auf dem Weg in die Hauptstadt Tripolis.

 

Von wem die in militärischem Beige lackierten Wagen geliefert wurden, ist nicht bekannt, doch die Vermutung liegt nahe, dass ägyptische oder emiratische Mittelsmänner bei der Lieferung des Militärgerätes die Hand im Spiel hatten. Seit Jahren rüstet die Armee von Präsident Abdulfatah Sisi Haftars LNA auf. Es gibt Videos, die den Einsatz ägyptischer Hubschrauber 2014 in der damals von radikalen Gruppen besetzten Stadt Derna zeigen.

 

Trotz des Waffenembargos und den von einem Expertengremium veröffentlichten Beweisen der illegalen Waffenlieferungen störte sich bislang niemand an dem staatlich gelenkten Waffenschmuggel, schienen deren Konflikte doch lokal begrenzt und von außen einigermaßen sinnlos zu sein. Doch seit den türkischen Stationierungsplänen ist alles anders. Mit 324 zu 185 überstimmte in Ankara die Regierungsmehrheit die Oppositionsabgeordneten und gab damit den Weg für einen offiziellen Militäreinsatz frei. Unal Cervikoz, der zweite Vorsitzende der türkischen Oppositionsparteien CHP warnte eindringlich vor einem Kriegsabenteuer in Nordafrika und plädierte für eine Verhandlungslösung in Libyen.

 

Es half nichts. Ein Jahr lang darf Erdoğan nun die türkische Luftwaffe, Marine und Infanterie in Tripolis oder Misrata einsetzen, um die libysche Einheitsregierung vor einer Niederlage zu bewahren. Vielleicht noch viel wichtiger: Erdoğan kann Premier Serraj vor den Milizen schützen, die seine Regierung an der Front im Süden von Tripolis verteidigen.

 

Der international aber nicht von dem libyschen Parlament anerkannte Premierminister hatte Ankara bereits Mitte Dezember um militärische Hilfe im Kampf gegen die ostlibysche Armee seines Kontrahenten gebeten. Haftars LNA versucht seit Anfang April die Milizen aus Tripolis zu vertreiben, die vor bald neun Jahren Gaddafi stürzten und nun für Serraj kämpfen. Doch der ehemalige Geschäftsmann muss sich hauptsächlich auf die gut organisierten Einheiten aus der Hafenstadt Misrata verlassen, da viele Hauptstadtmilizen nur im Eigeninteresse handeln.

 

Wettlauf um die Kontrolle von Südtripolis

 

Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay sagte der Nachrichtenagentur Anadolu am Dienstag offenherzig, worum es in dem Engagement der türkischen Regierung in dem Bürgerkriegsland Libyen hauptsächlich geht: »Mit dem libysch-türkischen Kooperationsabkommen wird jeglicher gegen die Türkei gerichtete Plan in der Region unmöglich gemacht.«

 

Neben der Einigung auf militärische Hilfe hatten Serraj und Erdoğan mit der Schaffung einer gemeinsame Wirtschaftszone im östlichen Mittelmeer die Mittelmeeranrainer überrascht. Mit dem von der internationalen Gemeinschaft ernannten Serraj hat Präsident Erdoğan einen wichtigen Bündnispartner im Streit um die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer gefunden. Doch in Griechenland, Ägypten und auf Zypern stößt das libysch-türkische »Memorandum of Understanding« mit der weitgehend machtlosen Regierung in Tripolis auf erbitterten Widerstand.

 

Kairo und Athen wollen die Umsetzung und mögliche Förderung der vermuteten Gasvorkommen durch türkische Firmen verhindern. Kurzfristig haben die Regierungen am Tag der türkischen Parlamentsentscheidung mit Israel die gemeinsame Förderung von Öl und Gas vor Zypern vereinbart. Der griechische Außenminister Nikos Dendias besuchte am 22. Dezember Haftar in Bengasi, kurz darauf setzte dessen Marine ein türkisches Frachtschiff vor der ostlibyschen Küste fest. Für die zweite Januarwoche wurden griechisch-ägyptische Marinemanöver vor Libyen geplant.

 

Unterstützung erhält die Türkei durch die algerische Regierung. Der Sprecher des algerischen Außenministeriums sagte am Dienstag, dass der Vertrag zwischen Libyen und Algerien ausschließlich Angelegenheit beider Länder sei. Nach Angaben der italienischen Analyse-Webseite »ItalMilRadar« waren in der letzten Dezemberwoche mindestens drei Boing 747 Transportflugzeuge über Algier in die libysche Hafenstadt Misrata geflogen. Nach Angaben von dortigen Kommandeuren mit türkischen Waffen beladen.

 

An der Front, in dem Tripolitaner Stadtteil Salah Eddine, war die libysch-arabische Armee Ende Dezember einige hundert Meter in Richtung Stadtzentrum vorangekommen. Seit dem Beginn der Offensive am 4. April hatte sich die 80 Kilometer lange Frontlinie südlich von Tripolis über Monate kaum verändert. Söldner aus dem Sudan und russische Spezialisten sollen dort auf Seite der LNA im Einsatz sein.

 

Zuvor wurde fast jeder Vorstoß der ostlibyschen Angreifer mit Fotos und Videos auf Facebook begleitet. Das plötzliche Ausbleiben solcher Meldungen von der Front in Salah Eddine gilt bisher als stärkster Beweis, dass ausländische Söldner an der LNA-Offensive beteiligt sind. Videos von jungen Kämpfern in Sandalen und mit umgeschlungenen Patronengurten sieht man nur noch selten. Heute bestimmen Drohnen und Panzer das Geschehen. Am Montag schlugen besonders viele Granaten in Salah Eddine ein. Haftar versucht, vor dem Eintreffen türkischer Truppen strategische Punkte in Tripolis zu erobern, vermuten Kommandeure der Verteidiger.

 

Der für den 7. Januar geplante Besuch mehrerer EU-Außenminister in Tripolis wurde von der Regierung in Tripolis vorläufig verschoben. Man habe derzeit keine Kapazitäten für ein diplomatisches Besuchsprogramm, ließ das Büro von Premier Serraj mitteilen.

Von: 
Mirco Keilberth

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.