Lesezeit: 7 Minuten
Südkorea, Israel und der Gaza-Krieg

Wie Seoul auf den Nahostkonflikt blickt

Analyse
Südkorea, Israel und der Gaza-Krieg
Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol beim Treffen mit Israels Premier Benjamin Netanyahu Botschaft Republik Korea in Israel

Welche Rolle der Gaza-Krieg für Südkoreas enger werdende Beziehungen zum Nahen Osten spielt – und welche Folgen der 7. Oktober für den »koreanischen Iron Dome« zeitigt.

Am ersten Tag des neuen Jahres begann die Republik Korea ihre zweijährige nicht-ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Als Botschafter und UN-Vertreter unterstrich Hwang Joon-kook am 2. Januar die Bereitschaft Südkoreas, entschlossen gegen »Bedrohungen des internationalen Friedens und der Sicherheit« vorzugehen. Kurz nach Jahresbeginn ordnete Südkorea nach Angriffen des Regimes aus Pjöngjang die Evakuierung seiner Halbinseln Baengnyeong und Yeonpyeong an. Es ist nicht verwunderlich, dass der geopolitische Fokus Südkoreas auf den Aggressionen seines nördlichen Nachbarn liegt. Auf die sicherheitspolitische Krise im Nahen Osten dagegen hat die koreanische Regierung bislang weder eine umfassende Positionierung, noch eine Strategie für die Situation im Gazastreifen vorgelegt. Eine klare Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt einzunehmen, bedeutet auch für Seoul eine Herausforderung.

 

Während die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland ihre »unerschütterliche und gemeinsame Unterstützung« für Israel zum Ausdruck brachten und die Hamas unmissverständlich verurteilten, versucht sich die südkoreanische Regierung an einem Balanceakt: Im Gegensatz zu seinen westlichen Verbündeten rief Präsident Yoon Suk-yeol im Zuge der seiner Solidaritätsbekundung mit Jerusalem bereits in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober Israel auf, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Dahinter stecken auch eine geostrategische Erwägungen: Eine zu einseitige Stellungnahme gegen die eine oder für die andere Partei birgt aus Sicht der südkoreanischen Regierung Gefahrenpotenzial für Wirtschaft und Sicherheit des Landes.

 

Grundsätzlich bilden die Beziehungen zwischen Südkorea und den Vereinigten Staaten einen komplexen Rahmen für Seouls außenpolitische Entscheidungen. Die Unterzeichnung des »Gegenseitigen Militärabkommen« im Jahr 1953 markiert den Beginn des einzigen Verteidigungspaktes des ostasiatischen Landes. Bis heute ist Washington formal der einzige offizielle militärische Verbündete Südkoreas. Angesichts der starken Unterstützung der USA für Israel könnte eine direkte Verurteilung Israels durch Südkorea das Militärbündnis möglicherweise belasten. An der nördlichen Grenze droht das Regime von Kim Jong-un weiterhin mit Atomwaffen und Raketen. Dass man sich auf Washingtons Waffenhilfe und zugleich auf die eigene militärische Schlagkraft verlassen kann, gehört zu den Grundpfeilern der südkoreanischen Sicherheitsdoktrin.

 

Das bilaterale Freihandelsabkommen im Jahr 2021 ist Israels erste derartige Vereinbarung in Asien

 

Doch angesichts der Abhängigkeit von Öl und Gas aus dem Nahen Osten – mehr als 70 Prozent des gesamten südkoreanischen Ölbedarfs werden von den Golfstaaten gedeckt – befindet sich das Land in einer schwierigen Lage. Insbesondere zu Saudi-Arabien pflegt Seoul gute Beziehungen, die weit über den Rohstoffhandel hinausgehen. Im Oktober 2023 verkündeten etwa Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) und Präsident Yoon Suk-yeol das gemeinsame Ziel, die Zusammenarbeit in der Kulturbranche, in Umweltfragen, aber auch im Sicherheitssektor weiter auszubauen. Beim Treffen in Riad erklärte der südkoreanische Staatschef, der seit 2022 im Amt ist, dass »die saudischen Bemühungen, sich für Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten Wellen weit über die Region hinaus schlagen.«

 

Doch die südkoreanische Haltung im Nahostkonflikt wird nicht nur von Drittstaaten mitbeeinflusst. Auch zu Israel pflegt Südkorea traditionell freundschaftliche Beziehungen. Die beiden Länder verbindet zudem eine ähnliche Wirtschaftsgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als schnell wachsende Volkswirtschaften mit Vorbildcharakter für Entwicklungsländer auf der ganzen Welt.

 

Israel ist mit 5,4 Prozent der Investitionen in Forschung und Entwicklung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weltweit führend, dicht gefolgt von Südkorea mit 4,8 Prozent auf Platz zwei, in beiden Bereichen sind die Länder eng miteinander verbunden. Auch die direkten Wirtschaftsbeziehungen intensivieren sich stetig, vor allem seit Abschluss des bilateralen Freihandelsabkommen im Jahr 2021 – Israels erster derartiger Vereinbarung in Asien.

 

Der jeweils empfundene Erfahrungshorizont in den eigenen Konfliktregionen untermauert diese Kooperation: So brachte Seouls Botschafter Lee Gun-tae im Jahr 2014 dem damaligen israelischen Präsidenten Reuven Rivlin gegenüber zum Ausdruck, dass »Südkorea das einzige Land ist, das die Situation Israels vollständig verstehen« könne. Rivlin revanchierte sich und zollte der Aufbauleistung des Tigerstaates Respekt. »Bevor ich nach Seoul reiste, dachte ich, es gäbe nur ein Wunder: nämlich Israel. Dann sah ich, was Sie seit den 1950er Jahren geschafft haben.« Beiden Staaten ist nicht nur das Wohlstandsnarrativ gemein, sondern eben auch die Ansicht, diese Leistung in einer Region umgeben von Feinden vollbracht zu haben.

 

Nicht zuletzt zeigte der 7. Oktober die Grenzen des »Iron Dome«-Luftabwehrsystems auf

 

Umso mehr ließ das schockierende Versagen der israelischen Frühwarnsysteme im Vorfeld des 7. Oktober in Seoul die Alarmglocken klingeln. Schließlich gehört die ausreichende Vorbereitung auf einen möglichen Angriffsplan aus Pjöngjang zu den fundamentalen Pflichten jeder südkoreanischen Regierung. Nicht zuletzt zeigte der 7. Oktober die Grenzen des »Iron Dome«-Luftabwehrsystems auf. Nach dessen Vorbild hat Südkorea die »Low Altitude Missile Defence« (LAMD) entwickelt, bekannt unter dem Spitznamen »Koreanischer Iron Dome«. Die Verlegung war ursprünglich für 2026 geplant, wurde nun aber auf Ende dieses Jahres vorgezogen.

 

Zwar dienen LAMD und Iron Dome unterschiedlichen Zielen, aber der Hamas-Angriff hat gezeigt, dass auch Hochleistungsabwehrsysteme keine absolute Erfolgsgarantie für die Gefahrenabwehr aus Luft bieten, zumal Nordkorea mit schätzungsweise 10.000 Artilleriegeschützen über ein weitaus umfangreicheres Raketenarsenal verfügt als die Hamas. Auch aus dieser Perspektive heraus hat südkoreanischen Sicherheitskreisen eine Sichtweise an Popularität gewonnen, die Gemeinsamkeiten zwischen der hybriden Kriegsführung Pjöngjangs und der Hamas betont, die Guerillataktiken mit groß angelegten Raketenabschüssen kombiniert.

 

Obwohl die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Südkorea und der Palästinensischen Autonomiebehörde bei weitem nicht so ausgeprägt sind wie jene zwischen Seoul und Jerusalem, betont Präsident Yoon seine Solidarität mit den Palästinensern – etwa über Seouls Finanzierungsbeiträge an UN-Institutionen. Die Zahlungen der Republik Korea an das Hilfswerk UNRWA beliefen sich im Jahr 2022 auf 2,2 Millionen US-Dollar. Im Vergleich zu den 344 Millionen Dollar aus Washington – dem weltweit größten Geber – im selben Jahr und den 21 Millionen Dollar des Vereinigten Königreichs, das ein ähnliches Pro-Kopf-BIP wie Südkorea aufweist, ein zwar bemerkenswert niedriger Betrag.

 

Doch beim Betrachten dieser Zahlen müssen auch die Prioritäten der südkoreanischen Regierung berücksichtigt werden: Seoul unterhält zwar intensive Beziehungen zu wichtigen Akteuren im Nahen Osten, doch der israelisch-palästinensische Konflikt die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen des Landes in letzter Konsequenz dann doch nur bedingt: Positionierung und Fokussierung bedeutet für Seoul nicht, sich für bestimmte Parteien im Nahostkonflikt zu entscheiden. Entscheiden muss man sich viel mehr, welche Konfliktregion – der Nahe Osten oder die eigene Umgebung in Ostasien – sicherheitspolitische Priorität genießt.

Von: 
C-Young Kim

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.