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Krieg und Milizen in Myanmar

Was kommt nach der Junta in Myanmar?

Analyse
Krieg und Milizen in Myanmar
Die »Unabhängige Armee Kachin« ist eine der zahlreichen Milizen ethnischer Minderheiten in Myanmar. Paul Vrieze / Voice of America

Im Bürgerkrieg in Myanmar verliert die Junta seit Monaten an Boden. Die Milizen, die sie bekämpft, erzielen militärische Gewinne und planen schon die Nachkriegsordnung. Doch eine Volksgruppe bleibt weiter außen vor.

Am 1. Februar diesen Jahres hat sich der Militärputsch in Myanmar zum dritten Mal gejährt. Der Konflikt zwischen Sicherheitsapparat (Tatmadaw) und diversen pro-demokratischen und ethnischen Splittergruppen dominiert spätestens seit der Machtübername der Junta den Alltag im Land. Der Flirt der Generäle mit einem demokratischen System endete mit dem Putsch und dem Hausarrest von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyis 2021 aber endgültig.

 

Außerhalb des Kernlands der Bamar, der ethnischen Burmesen, dominieren nach drei Jahren Krieg Milizen und kriminelle Gangs, die gegen die Junta kämpfen, das Land. Die Grenzen zwischen ethnischen Befreiungsarmeen und Warlords verschwimmen dabei: Häufig sind diese Organisationen in Drogenproduktion und illegale Rohstoffexporte verwickelt. Aufgrund der teils willkürlichen Angriffe der Luftwaffe der Junta auf Zivilisten – die Rede ist auch von Attacken mit chemischen Waffen – finden die Generäle inzwischen kaum noch Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung. Stattdessen gehen verschiedene ethnische Milizen in den unterschiedlichen Provinzen des Landes militärisch in die Offensive. Viele schwören dabei der Exilregierung, der »Regierung der Nationalen Einheit« (NUG), die Treue – und dem Ziel, eine föderale Demokratie aufzubauen.

 

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Kampfhandlungen haben noch nicht ernsthaft das Kernland des Tatmadaw gefährdet. Im Westen des Landes, an der Grenze zu Bangladesch und Indien, zeichnen sich seit Januar 2024 jedoch Entwicklungen ab, die exemplarisch für die Dynamiken des Konfliktes stehen: Im Staat Rakhaing – dem Zentrum des Genozids gegen die muslimische Minderheit der Rohingya – erzielt eine ethnische Miliz große Geländegewinne im Kampf gegen die Junta. Im Staat Chin hat sich die gleichnamige Volksgruppe politisch organisiert und mit dem »Chinland-Rat« eine eigene Verfassung und Regierung aufgesetzt.

 

Rakhaing ist ein Spiegelbild der militärischen Entwicklungen des Bürgerkriegs. Die Junta verliert seit Monaten an Boden, da landesweit koordinierte Gegenangriffe der ethnischen Befreiungsarmeen sie in einen Mehrfrontenkrieg verwickeln. So hat die Miliz »Arakan-Armee« im Januar strategisch wichtige Ortschaften erobert und kontrolliert nun das gesamte Grenzgebiet zu Bangladesch. Dass nun im Internet Videos von regierungstreuen Soldaten kursieren, die verängstigt über die Grenze fliehen, demonstriert den immensen Kontrollverlust der Junta in Myanmars Peripherie – und Bangladeschs Interesse an Stabilität in der Grenzprovinz Rakhaing.

 

Die Minderheiten operieren in einem Machtvakuum, in dem sie staatsähnliche Strukturen aufbauen, finanziert durch illegale Wirtschaftsaktivitäten

 

Die Gesetzeslosigkeit auf der anderen Seite der porösen Grenze bereitet Dhaka deshalb Kopfschmerzen, da man kriegerische Auseinandersetzungen, kriminelle Vereinigungen und Flüchtlinge vom eigenen Staatsgebiet fernhalten möchte. Mit dem fortschreitenden Erstarken der Milizen sind Myanmars Nachbarstaaten aus diesem Grund zunehmend bereit, direkt in Dialog mit den ethnisch-militärischen Organisationen zu treten.

 

Wichtig ist Bangladesch dabei auch, das Risiko weiterer Flüchtlingswellen zu minimieren. Bereits heute leben über eine Million Rohingya im Nachbarland, sie leiden besonders unter der Gewalt in der Grenzprovinz. Mit Unterstützung der buddhistischen Bevölkerung Rakhaings macht sich die Zentralregierung seit Jahren der Tötung, Vergewaltigungen und Vertreibungen gegen die muslimische Minderheit schuldig. Der Vorwurf, die Junta betreibe so einen Genozid gegen die muslimische Minderheit, wird derzeit auch vor dem Internationalen Gerichtshof (ICJ) in Den Haag verhandelt.

 

Die Lage der in Myanmar verbliebenen Rohingya hat sich seit dem Putsch nicht verbessert: »Über 130.000 Binnengeflüchtete leben in Rakhaing quasi in einem Freiluftgefängnis«, fasst Nay San Lwin zusammen. »Die Junta fliegt ohne Rücksicht auf Zivilisten Angriffe, die Arakan-Armee schlägt ihre Lager in den Dörfern der Rohingya auf«, beschreibt der Mitgründer der Aktivistengruppe »Free Rohingya Coalition« gegenüber zenith. Beide Kriegsparteien demonstrieren immer wieder die Bereitschaft, die Rohingya als Kollateralschaden zu opfern. Grund dafür ist die Sonderrolle der Rohingya in der ethnischen Landschaft Myanmars. Sie werden von den anderen Volksgruppen fälschlicherweise als nicht »einheimisch« betrachtet.

 

Die größeren Dynamiken, die den Konflikt in Rakhaing prägen, lassen sich jedoch überall im Land beobachten. Die in den Grenzregionen Myanmars lebenden Minderheiten operieren in einem Machtvakuum, in dem sie staatsähnliche Strukturen aufbauen, finanziert durch illegale Wirtschaftsaktivitäten. Dabei profitieren sie von der Distanz zum burmesischen Kernland, das vom Zentralstaat und der Junta kontrolliert wird. Das gilt nicht nur für die Arakan-Armee in Rakhaing. An der Grenze zu China zum Beispiel verfolgen Gruppen wie die Wa oder die Ta’ang eine ähnliche Strategie. Im Chin-Staat gewinnt die Beziehung zu Indien zunehmend an Bedeutung. Myanmars Grenzregionen stehen in regem Austausch mit den jeweiligen Nachbarländern, mit denen sie häufig kulturell und ethnisch enger verbunden sind als mit den Bamar.

 

Was die Arakan-Armee und ähnliche Milizen zu ihrem politischen Ziel erklären, entfaltet sich gerade im benachbarten Chin

 

Die Junta wird durch diese Distanz zu den Provinzen vor enorme Probleme gestellt, da sie angesichts des Widerstands der Minderheiten kaum Einfluss in den Grenzregionen hat. Militärisch kann sie lediglich mit der Luftwaffe gegen Rebellen vorgehen, da sich Bodenoffensiven logistisch als zu schwierig erwiesen haben. Auch die Verwaltungsstrukturen, die in Myanmar vor dem Krieg existierten, waren auf Konsens und Beteiligung der lokalen Volksgruppen angewiesen. Nun aber verweigern viele Beamte dem Tatmadaw die Treue und haben sich den autonom operierenden Parallelstrukturen ihrer Volksgruppen angeschlossen.

 

Was die Arakan-Armee und ähnliche Milizen zu ihrem politischen Ziel erklären, entfaltet sich gerade im benachbarten Chin: In der Provinz nahe der indischen Grenze ist der bewaffnete Widerstand gegen die Zentralregierung schon seit den 1980er-Jahren aktiv. Die Parlamentsabgeordneten aus Chin konnten während des Putsches 2021 Verhaftungen entgehen, und haben sich daraufhin dem Widerstand in ihrer Heimatprovinz angeschlossen. Eine Mischung aus ethnischer Identität, effektiven Kampfeinheiten und zivilgesellschaftlicher Vertretung haben nun die politische Koordination ermöglicht.

 

Form nahm diese Entwicklung Ende des vergangenen Jahres an. Anfang Dezember verabschiedeten 235 Teilnehmer aus der Provinz, aber auch Vertreter der Diaspora, auf einer Konferenz im Milizen-Hauptquartier Camp Victoria eine Übergangsverfassung und setzten einen Rat zum Aufbau exekutiver, legislativer und judikativer Organe ein. Parlamentsabgeordnete und Vertreter der Chin-Milizen bildeten am 1. Februar eine Regierung – inklusive einem Ressort für auswärtige Beziehungen. Das begründet sich erneut in der Beziehung zu den Nachbarländern: Über einen engen Draht zu Indien möchte man die eigene Legitimität stärken und gleichzeitig Neu-Delhis Vertrauen in den Tatmadaw schwächen.

 

Dennoch vertritt der Chinland-Rat in seiner aktuellen Zusammenstellung einen Großteil, aber nicht die ganze Volksgruppe, weil einige Chin-Milizen haben sich der Organisation nicht angeschlossen. Vertreter der Ortschaften, der kleinsten Verwaltungseinheit, können aus logistischen Gründen bisher noch nicht eingebunden werden, auch wenn das Chinland-Grundgesetz das vorsieht. Eine voll ausgearbeitete Verfassung soll erst in zwei Jahren stehen: Zu diesem Zeitpunkt soll Chinland in ein föderales, demokratisches Myanmar eingegliedert sein. Deshalb orientiert sich die politische Struktur Chinlands auch stark an jener der Exilregierung.

 

Auch in einer dezentralisierten, demokratischen Post-Junta-Ordnung drohen die Rohingya außen vor zu bleiben

 

Weil militärische Organisationen jedoch so eine wichtige Rolle für den Erfolg dieser Übergangslösung spielen, bleibt die Umsetzung des Demokratieversprechen ein schwieriges Unterfangen. Auch ein reines Lippenbekenntnis zu Demokratie würde den Milizen kurzfristig Rückhalt in der Bevölkerung sichern und wäre in diesem Sinne militärisch sinnvoll – unabhängig davon, ob man tatsächlich langfristig demokratische Strukturen aufbauen möchte. Insbesondere die Diaspora drängt hier auf die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen.

 

Diaspora-Gemeinden spielen für die Demokratiebewegung insgesamt eine wichtige Rolle. Denn letztendlich können Milizen wie die Arakan-Armee die Junta zwar militärisch in Schach halten, eventuell sogar besiegen – aber sie können keine politische Alternative für eine Post-Junta-Ordnung in Myanmar bieten. Diese Aufgabe würde den Aktivisten der NUG zufallen. Dabei knüpft die »Regierung der Nationalen Einheit« an die demokratischen Fortschritte der Vergangenheit an: Ihre Führung besteht aus ehemaligen Parlamentsabgeordneten, die im Untergrund oder Ausland leben und symbolisch ihre Ämter weiter bekleiden. Unter ihnen sind aber auch inhaftierte Politiker wie Aung San Suu Kyi. Deutlicher als jemals zuvor fordert die NUG nun eine föderale Demokratie für Myanmar, inklusive Selbstbestimmungsrechten, freien Wahlen und dem Schutz von Minderheiten.

 

Solch ein politisches System würde deutlich weniger zentralisiert sein als jenes vor dem Putsch. Nicht zuletzt, weil die Rebellen ja explizit dafür kämpfen, die Macht des Tatmadaw einzuschränken. Auch im Grundgesetz von Chinland, das unter Bezug auf die NUG entstand, zeichnet sich eine Neuverhandlung der Beziehungen zwischen Regionen und Zentralregierung ab. Die Lokalisierung von politischen Identitäten, Institutionen und Wirtschaftssystemen, die mit dem bewaffneten Widerstand der Milizen einhergeht, schwächt staatliche Autorität und Institutionen ebenso. Auch in einer dezentralisierten, demokratischen Post-Junta-Ordnung drohen hingegen die Rohingya außen vor zu bleiben. »Die NUG erkennt uns als Volksgruppe weiterhin nicht an«, beklagt auch Aktivist Nay San Lwin von der »Free Rohingya Coalition«.

 

Die NUG hat noch weitere Hürden vor sich. Das Gremium ist zwar das politische Gesicht des Widerstandes, jedoch nicht aktiv in die Kampfhandlungen in Myanmar involviert. Es wird auf die Kooperation der Milizen angewiesen sein, die sich auf dem Papier zur politischen Vision einer bundesstaatlichen Konföderation bekennen. Sie zur Aufgabe der lukrativen kriminellen Geschäfte und anderer Privilegien, die sie sich in dem rechtsfreien Raum des Bürgerkriegs gesichert haben, zu bewegen, dürfte sich als ungleich schwerere Aufgabe erweisen.

Von: 
Philipp Peksaglam

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