Lesezeit: 6 Minuten
Die Zukunft der Palästinensischen Autonomiebehörde

Was kommt, Abbas?

Analyse
Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Foto: Wikimedia Commons.

Während die Welt um die Deutungshoheit im Gaza-Krieg ringt, hält sich eine Stimme auffällig zurück – die Palästinensische Autonomiebehörde mit Sitz in Ramallah. Grund für ihr Schweigen ist unter anderem ihre ungewisse Zukunft

Juli 2023: Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas wird von jordanischen Helikoptern nach Jenin geflogen, um eine Rede zu halten. Der 88-jährige Mitgründer der Fatah verlässt inzwischen selten seinen Sitz in Ramallah, doch die Umstände zwingen ihn zu einer versuchten Machtdemonstration: Die Woche zuvor haben die Bewohner Jenins zwei führende Fatah-Mitglieder aus der Stadt vertrieben und ihnen vorgeworfen, mit den israelischen Sicherheitsbehörden gemeinsame Sache zu machen. Die Stadt ist im Aufruhr und seit Monaten im Zentrum von Gefechten, die sich die israelische Armee und bewaffnete palästinensische Gruppen liefern. Die öffentliche Rede von Abbas, die seinem Imageverlust entgegenwirken soll, wird zur Farce: Das Mikrofon funktioniert nicht, der Präsident wirkt alt und müde, und anstelle der Bewohnerinnen und Bewohner Jenins hören ihm die eigenen Sicherheitsleute in ziviler Kleidung zu.

 

Die Szene, die sich im Sommer in Jenin abspielte, steht symbolisch für den Machtverlust der PA im Westjordanland. Mit dem Krieg im Gaza sieht die palästinensische Führung noch weniger Spielraum, sich zu positionieren: Ihr weitgehendes Schweigen ist ein Sinnbild für den fortwährenden Verlust der Handlungsfähigkeit. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 07. Oktober hat der palästinensische Präsident außer der wiederholten Beteuerung, die PLO sei die einzige legitime Sprecherin der Palästinenser und Palästinenserinnen, wenig gesagt. Dieses Schweigen spricht Bände über den Zustand seines Systems. Seit Jahren kämpft Abbas nicht mehr für die Selbstbestimmung seines Volks, sondern mit repressiven Mitteln um seinen Machterhalt. Fast 70 Prozent der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten ist unter 30 Jahre alt – und hat damit noch nie in ihrem Leben gewählt. Abbas ist nicht ihr Präsident, das zeigt sich auch in Umfragen immer wieder. Seine Popularität schwindet kontinuierlich, mittlerweile stehen nur noch etwa 20 Prozent der Bevölkerung hinter ihm. Nationale Wahlen hat er in den vergangenen Jahren wieder und wieder abgesagt.

 

Trotz der Frustration über den autokratischen Führungsstil und die mangelnde Transparenz über das System Abbas, hat die US-amerikanische Regierung nun aber eine »revitalisierte PA« als Akteur im Gaza-Streifen für die Zeit nach der Hamas ins Spiel gebracht. Die »Revitalisierung« der PA ist das Wunschszenario der US-Administration – ohne darzulegen, was das genau bedeuten soll. Doch in ihrer gegenwärtigen Form ist die PA kaum fähig, ihren Aufgaben im Westjordanland nachzukommen. In den nördlichen Gebieten um Nablus, Tulkarm und Jenin hat sie größtenteils die Kontrolle verloren; in vielen Flüchtlingslagern ist sie verhasst.

 

Die meisten Palästinenser haben mittlerweile längst das Vertrauen in ihre Führung verloren, denn auch in den vollständig von der PA kontrollierten A-Gebieten marschiert die israelische Armee täglich und nächtlich ein. In den B- und C-Gebieten, die Israel (teilweise bis vollständig) kontrolliert, ist die palästinensische Bevölkerung stark ansteigender Siedlergewalt ausgesetzt. Die palästinensische Bevölkerung sieht sich dabei nicht durch ihre eigene Führung geschützt, sondern betrachtet diese vielmehr als Instrument der israelischen Besatzung. Hinzu kommen massive Finanzprobleme der PA. Zunächst verlor man vor Jahren die finanzielle Unterstützung vieler arabischer Staaten, die Europäische Union als größter Geldgeber setzt ihre Hilfszahlungen teilweise aus und zuletzt wurden die Transferzahlungen aus Israel von der PA abgelehnt mit dem Verweis auf einseitige Reduzierungen der Zahlungen durch die israelische Regierung. Israelische Behörden sind gemäß der Oslo-II-Vereinbarungen für die Zoll- und Steuereinnahmen internationaler Produkte in die Palästinensischen Gebiete zuständig. Die daraus resultierenden Transferzahlungen sind für die PA überlebenswichtig. Zuletzt konnten keine Gehälter im Öffentlichen Dienst mehr bezahlt werden. Damit blieben Sicherheitskräfte und viele weitere Angestellte der PA unbezahlt. Im Dezember sprangen lokale Banken ein und sicherten zumindest im Schnitt 50 Prozent der Gehälter.

 

Alleine die desolate finanzielle Verfassung der PA macht klar, wie illusorisch es ist, zu glauben, die Palästinensische Autonomiebehörde ist bereit, den Gaza-Streifen zu verwalten. Erneut unter Gnade von israelischen Sicherheitserwägungen in den Gaza-Streifen zurückzukehren, wäre für die angeschlagene Reputation der PA äußerst riskant. Damit ist die Zukunft des Gaza-Streifens unklarer denn je.

 

Auch wenn das israelische Militär vom Kriegsziel, die Hamas auszulöschen, nicht abweicht: Über den Tag danach herrscht zwischen Israel und seinen internationalen Verbündeten wenig Einigkeit. Während eine politische Lösung nicht in Sicht ist, setzt sich die humanitäre Katastrophe weiter fort: 64 Prozent der im Gaza-Streifen lebenden Bevölkerung sind Flüchtlinge unter dem UNRWA-Status. Bereits vor dem Krieg waren 80 Prozent der Bevölkerung auf internationale humanitäre Hilfe angewiesen; die humanitäre Lage katastrophal. Angesichts des Kriegsgeschehens ist bislang lediglich klar, dass sich die humanitäre Katastrophe dramatisch verschärft hat. Aktuelle Schätzungen belaufen sich auf 1,5 bis 1,7 Millionen obdachlos gewordene oder intern vertriebene Menschen, die meisten davon im südlichen Teil des Gaza-Streifens, wo in geringem, aber nicht ausreichendem Maße, humanitäre Hilfe ankommt. Auf Satellitenbildern sind massive Zerstörungen von Infrastruktur zu sehen; circa die Hälfte aller Wohngebäude sollen zerstört oder beschädigt sein. Der Blick von oben macht klar: Der Gaza-Streifen ist spätestens seit den Bombardements dieses Krieges unbewohnbar.

 

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat in den vergangenen Wochen immer wieder beteuert, der Gaza-Streifen würde »auf unbestimmte Zeit« unter israelischer Sicherheitskontrolle bleiben, unter anderem auch um die Bevölkerung zu »de-radikalisieren«. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie viel überhaupt vom Gaza-Streifen für die Palästinenser bleibt. Die israelische Regierung hat bereits angekündigt, dass sie militärische Sperrzonen einrichten wird. Auch eine Annexion von Teilen des Gaza-Streifens ist ein realistisches Szenario, obgleich sich die internationale Gemeinschaft dagegen ausspricht. Einzig eine dauerhafte Verwaltung der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen durch die israelische Armee erscheint auch der Netanyahu-Administration als nicht tragfähig.

 

Dass Abbas vor seiner Machverdrängung steht, ist ihm wohl bewusst. Gerade deshalb versucht der Alteingesessene, die letzte Chance auf seine Rehabilitierung zu ergreifen: Kamen in den vergangenen Wochen internationale Staatsgäste in die Palästinensischen Gebiete, trafen sie sich nahezu ausschließlich mit Präsident Abbas. Andere Ansprechpartner scheinen auf politischer Ebene für westliche Akteure nicht vorhanden: Für den Westen steht Abbas – trotz seiner Fehlbarkeiten – für politische Berechenbarkeit. Beim Besuch von US-Außenminister Antony Blinken in Ramallah signalisierte Abbas, die PA wäre unter der Bedingung »umfassender politischer Lösungen« bereit, im Gaza-Streifen die Verantwortung zu übernehmen. Gemeint ist damit eine Verpflichtung zu einer Zweistaatenlösung mit einem palästinensischen Staat auf dem Gebiet von Ost-Jerusalem, dem Westjordanland und des Gaza-Streifens. So hat Abbas klargestellt: Er und die PA werden die Rückkehr nach Gaza nur wagen, wenn sie Israel bzw. den USA einen politischen Erfolg abringen können. Ein solcher könnte auch mit kleinen Schritten beginnen: Die palästinensische Führung drängt seit der Amtsübernahme von US-Präsident Biden auf die Wiedereröffnung des US-Generalkonsulats in Ost-Jerusalem und die Rücknahme der US-Terroreinstufung für die PLO. Aber auch die vollwertige Aufnahme in die Vereinten Nationen und damit eine Anerkennung des palästinensischen Staates stehen im Forderungskatalog.

 

Doch selbst wenn die PA sich tatsächlich darauf einlässt, wieder die Verwaltung im Gaza-Streifen zu übernehmen, bleibt eine weitere Frage: Wer folgt auf Mahmud Abbas? Abbas ist 88 Jahre alt, immer wieder wurde über seinen Gesundheitszustand spekuliert. Weder gibt es einen Vize-Präsidenten noch einen Palästinensischen Legislativrat – auch das nationale Parlament wurde bereits vor Jahren aufgelöst. Das aufziehende politische Vakuum, dass Präsident Abbas hinterlassen könnte, war bereits vor dem 7. Oktober eine ernste Gefahr für das politische System. Fast die Hälfte aller Palästinenser glaubt, Abbas Tod würde zu einem bewaffneten Kampf um die Nachfolge führen, sowohl zwischen den palästinensischen Fraktionen wie auch innerhalb der Fatah. Nur etwa ein Viertel der Palästinenser rechnet mit Wahlen. Oppositionelle Stimmen – auch innerhalb der Partei – hat Mahmud Abbas über Jahre ersticken lassen, eine neue politische Riege konnte sich unter diesen Bedingungen nicht entwickeln. Die Namen, die als Nachfolger gehandelt werden – Hussein Al-Sheikh, Mohammad Shtayeh, Mohammed Dahlan – genießen wenig Popularität. Der einzige Name, der überdauert, ist Marwan Barghuthi, ehemaliger Generalsekretär der Fatah während der Zweiten Intifada. Er gilt als der mit Abstand charismatischste palästinensische Politiker. Ihm wird gar zugetraut, die zuletzt unüberbrückbaren Differenzen zwischen Fatah und Hamas zu überwinden, allerdings sitzt er in einem israelischen Gefängnis mit einer mehrfach lebenslänglichen Haftstrafe. Vor dem 7. Oktober hat die Hamas seinen Namen auf eine Liste für potentielle Gefangenenaustausche gesetzt. Doch auch in Israel wird man sich seiner politischen Macht bewusst sein. Eine Freilassung erscheint damit sehr unwahrscheinlich. Anzeichen für einen politischen Wandel im Westjordanlang gibt es damit keine – auch wenn langfristig dessen Zukunft bedeutender als der Gaza-Streifen ist: Denn der Kern für eine politische Lösung des Nahostkonflikts liegt in Ostjerusalem und den umliegenden Gebieten.

 

Von: 
Steven Höfner

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.